Jahrestagungsbericht „‚The Final Countdown‘. Ästhetik und Politik von Weltuntergängen“
Autorinnen: Luca Lil Wirth und Insa Wichert
Die Jahrestagung der Friedrich Schlegel Graduiertenschule im November 2023 widmete sich dem Phänomen des Weltuntergangs bzw. der Weltuntergänge, insbesondere unter dem Eindruck seiner zeitspezifischen Aktualität und einer gleichzeitigen Wahrnehmung seiner (literatur)historischen Dauerpräsenz. Neben den Schwerpunkten von Ästhetik und Politik von Weltuntergängen standen im Zuge der Tagungskonzeption insbesondere auch Fragen nach der Temporalität von Weltuntergangserzählungen im Vordergrund. Unter dem Titel „The Final Countdown“. Ästhetik und Politik von Weltuntergängen wurde daher ein zweitägiges Programm – bestehend aus fünf Vorträgen, einer künstlerischen Performance und einer Podiumsdiskussion – zusammengestellt, das eine möglichst interdisziplinäre Sicht auf die Endzeit als Gegenstand literarischer Produktion eröffnen und die politischen wie ästhetischen Implikationen einschlägiger Narrative samt der sie flankierenden Problemstellungen ergründen sollte.
Der Beitrag von Veronika Wieser (Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien) bildete, nachdem die Keynote von Eva Horn (Universität Wien) leider kurzfristig entfallen musste, den Einstieg in die Tagung. Entlang einer Auseinandersetzung mit historischen Wetter- und Klimaextremen (darunter die Kleine Eiszeit der Spätantike), durchleuchtete der Vortrag zeitgenössische Erklärungen der Phänomene auf ihre Durchdringung von biblischen Vorstellungen und widmete sich ferner den von den Beobachtungen hervorgerufenen Lösungsansätzen und Handlungsweisen. Im Zuge der Einordnung zeitgenössischer Reaktionen und Erklärungen machten die Ausführungen auf jene Parameter aufmerksam, die apokalyptische Narratologien zumeist teilen. Exemplarisch erwähnt wurden ihre relativ gesehene Zeitlosigkeit, ein Exklusivitätsanspruch der Darstellung bzw. des dargestellten Ereignisses sowie die darin eingespeisten Thematisierungen akuter sozialer Fragen, verbunden mit Aufforderungen zur Selbstreflexion und dem Austarieren einer Handlungsmacht angesichts der drohenden Katastrophe.
Der Vortrag von Sarah Fengler (University of Oxford) setzte sich daran anschließend mit einer jüngeren Epoche auseinander. In ihrer vergleichenden, transnational ausgerichteten Untersuchung von Sintflut-Erzählungen des langen 18. Jahrhunderts (darunter John Miltons Paradise Lost, Friedrich Gottfried Klopstocks Der Messias und Johann Jakob Bodmers Noah) ging sie dem Wechselspiel zwischen der literarisierenden und wissenschaftlichen Bearbeitung des Sintflut-Stoffes nach. Dabei legte sie die Sintflut-Erzählung als Narration aus, in der sich die Vorstellung von einem rächenden Gott mit dem Motiv der Naturkatastrophe verbindet und perspektivierte sie als religiös motivierten Weltuntergang, der nur wenige Auserwählte überleben lässt. Die Herausarbeitung poetologischer Strategien, mit denen die Katastrophe wie auch das Überleben geschildert werden, mündete in dem Fazit, dass der Moment des Überlebens eine poetologische Notwendigkeit apokalyptischer Erzählungen sowie die Voraussetzung ihrer Erzählbarkeit ist.
Im Sinne der Tagungskonzeption, die Annäherungen an Einzelwerke in einen Dialog mit epochen- und zeitübergreifenden Überlegungen zu unterschiedlichen Formen von Weltuntergangswahrnehmungen zu bringen, setzte das Programm mit einem Beitrag von Daniel Falb (Berlin) fort. Überschrieben wurde der Vortrag von dem Vorhaben, das Anthropozändenken anti-apokalyptisch zu durchleuchten. Dabei thematisierten die Ausführungen auf Basis von Statistiken eine Habitualitätseskalation und eine daraus resultierende Unbewohnbarkeit der Erde für die menschliche Spezies. Verbunden wurden diese Erkenntnisse mit der These, dass das bevorstehende reale Ende der Menschheit ein non-apokalyptisches sei. Dem Phänomen des plötzlichen Endes setzte der Beitrag die Phänomenologie eines langsamen Rückbaus entgegen und stellte die Apokalyptik des Aussterbens im Sinne eines für Apokalypse-Imaginarien typischen ,Ereignisses von höchster Bedeutung‘ in Frage. Unter Rückgriff auf bildkünstlerische Darstellungen und Performance-Kunst schloss der Vortrag mit dem Zukunftsszenario einer weiter existenten Erde, in der menschliche Fossilien Teil des Stratums sein werden. Somit sensibilisierte der Beitrag dafür, zwischen einer real existenten Bedrohung und einer ästhetisch wie politisch instrumentalisierten Weltuntergangsnarrativik zu differenzieren und schuf eine wichtige Grundlage für kontroverse Diskussionen im Verlauf der Tagung.
Die Abschlussveranstaltung des ersten Tagungstages führte in den Hörsaal des Instituts für Theaterwissenschaft. Und die sieben Engel mit den sieben Posaunen hatten sich gerüstet zu posaunen – so lautete der Titel der Perfomance, die das Theaterkollektiv NIE eigens für die Tagung entwickelt hatte. Die Darbietung transferierte Elemente aus der Offenbarung des Johannes in die Gegenwart. Der Himmel, in dem die apokalyptischen Engel den Untergang probten, erinnerte – unter anderem durch den Einsatz von Fotografien auf einer Leinwand – an den Proberaum einer Rockband im Berlin der Gegenwart. In diesem Setting stellte sich dem Kollektiv ein gravierendes Problem: Eines der sieben Mitglieder aus der Schaar der Engel wollte nicht mehr posaunen, wodurch das soziale Gleichgewicht der Band und deren Proben für den Untergang gleichermaßen gefährdet wurden. Zwischen der Thematisierung immerwährender Urängste und spezifisch zeitgenössischer Katastrophen mit endzeitlichem Bedrohungspotenzial zeigte die Performance entlang des Plots, wie offensichtlich les- und aktualisierbar apokalyptische Stoffe und Einzelsymbole sind und wie deren humoristische Aktualisierung gleichzeitig den Weg zu Möglichkeiten des Fortbestehens verschiedener Welten weisen kann.
Der zweite Tag der Tagung begann mit einem Vortrag von Eva Heubach (University of Toronto) zu Dantes Göttlicher Komödie mit der zentralen These, dass dieses Werk von Anbeginn an nicht nur auf sein eigenes Ende, sondern auch auf die Endzeit schlechthin orientiert sei. Daneben rekonstruierten die Ausführungen den zeitgenössischen Entstehungshintergrund der Göttlichen Komödie und perspektivierten Dante als Verlierer einer ins Wanken geratenen sozialen Hierarchie, wodurch ihm die Position eines seherischen Beobachters der Szene ermöglicht würde. Im Zuge der werkspezifischen Erörterungen eröffnete der Vortrag weitere Aussichten auf sinnstiftende Elemente von Untergangsnarrativen. Unter anderem resultierte er in dem Fazit, dass mit der Göttlichen Komödie die individuelle Läuterung in einen erweiterten religiösen Kontext gestellt würde und dass im Kontinuum von Anfang und Ende die Frage nach der Selbstverortung entscheidend sei.
Ein anschließender Problemaufriss widmete sich dem Nexus von Weltuntergangsnarrativen und kulturkritischen Positionen bzw. Visionen. Mariko Wakayama (Freie Universität Berlin) setzte sich mit Stefan Georges zeit- und kulturkritischen Äußerungen auseinander, die in den Vorworten der Blätter für die Kunst wiederholt platziert sind. Die weiteren Ausführungen des Vortrags widmeten sich unter anderem der Fragestellung, inwiefern Dekadenz und Niedergangserscheinungen in der Argumentation Georges und seines Kreises letztlich Neues und Höheres erzeugen. Sie fokussierten damit die Endzeit als realen Kontext literarischer Produktion und mündeten in der Schlussfolgerung, dass Kunst – auf einem apokalyptischen Narrativ gründend – als Schlüssel zu einer neuen, kommenden Ära ausgewiesen wird.
Zum Abschluss diskutierten Jürgen Manemann (Forschungsinstitut für Philosophie Hannover) und das Auditorium unter der leitenden Moderation von Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Freie Universität Berlin) miteinander, nachdem der Kreis der Diskutant*innen aufgrund kurzfristiger Absagen (Anne Eusterschulte, Freie Universität Berlin sowie Raphael Thelen, Mitglied der Letzten Generation aus Berlin) nicht wie geplant zusammenkommen konnte. Jürgen Manemanns Impulse verwiesen zunächst auf die Offenbarung des Johannes als einen aus sich selbst heraus erklärbaren Text. In Fortführung dessen differenzierte der Impulsbeitrag, der der Diskussion vorausging, zwischen der Apokalypse als Text und der Apokalypse als Stimmung und reflektierte davon ausgehend über die Implikationen aktueller Debatten, die mit apokalyptischer Stimmung aufgeladenen sind. In diesem Zusammenhang plädierte Manemann für eine (selbst)reflexive Apokalyptik, die sich des Potenzials der auf Katastrophenszenarien gründenden Debatten bewusst ist. Exemplarisch angesprochen wurde die Gefahr, dass fatalistische Positionen, die in Absenz humoristischer Elemente auf den Untergang verweisen, einen passivierenden Effekt haben könnten. Zum Abschluss mündete die Diskussion in der Frage, was Katastrophen-, Weltuntergangs-, und Apokalypsenarrative voneinander unterscheidet. Apokalyptisches Denken – so eine am Ende der Tagung vertretene und diskutierte Position – impliziere radikales Wissen um die Befristung der individuellen Zeit, aber auch den Glauben daran, dass sich Raum für Neues einstelle, an das zuvor noch nicht geglaubt werden könne.