CfP/ Tagungsankündigung: Form und Affordanz (30.04.22 / Tagung 18.–19.07.22)
News vom 09.03.2022
Form und Affordanz. Interdisziplinärer und internationaler Workshop. CfP: 30.04.2022
Sonderforschungsbereich 980 Episteme in Bewegung
Freie Universität Berlin, 18. und 19. Juli 2022
Workshopkonzept:
Dinge können durch ihre Form und Materialität spezifische Umgangsweisen nahelegen. Aus menschlicher Sicht kann sich etwa ein Baumstumpf als Sitzgelegenheit eignen, ein handlicher Stein bietet sich als Wurfgeschoss an und die helle und glatte Rinde von Birken legt es nahe, sie als Schriftträger zu benutzen. Das theoretische Konzept der „Affordanz“ (engl. affordance, to afford) bezeichnet solche Handlungsangebote, welche Dinge menschlichen (wie tierischen) Akteuren ‚unterbreiten‘ können. Seit der Prägung des Begriffs durch den Psychologen James Jerome Gibson im Rahmen seiner ökologischen Wahrnehmungstheorie werden dabei Reziprozität und Situativität von Affordanz unterstrichen: Welche Handlungen sich anbieten, hängt nicht allein von der Beschaffenheit eines Dings ab, sondern ergibt sich auch in Relation zu den Handlungspotentialen und -intentionen der wahrnehmenden Akteure, wobei letztere auch erst aus beider Zusammentreffen entstehen können. Gibson zufolge ist die Wahrnehmung der (Um)Welt nicht von der Vermittlung durch vorgefertigte Ideen und Vorstellungen abhängig, sondern kann unmittelbar erfolgen.
Das Konzept der Affordanz ist von verschiedenen Disziplinen aufgegriffen worden, insbesondere in den science studies (Bruno Latour), in der Archäologie (Ian Hodder) und in der Designtheorie (Donald Norman). Im Zuge des material turn wurde dem Affordanz-Konzept auch von Seiten der Geistes- und Kulturwissenschaften Aufmerksamkeit zuteil, bietet es doch Möglichkeiten, die Relationen zwischen Artefakten wie Bildern oder Texten und ihren sozialen wie materiellen Bedingtheiten – gerade in ihrer Wechselseitigkeit – zu bestimmen.
Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kommt Affordanz zum Beispiel in Caroline Levines Konzeptionalisierung von ‚Formen‘ (engl. forms) eine zentrale Rolle zu: Levine zufolge lassen sich ästhetische wie soziale, ferner politische und historische Ordnungsmuster als ‚Formen‘ beschreiben: Verschiedene Formen weisen je spezifische Affordanzen und damit ihnen eigene Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbeschränkungen auf. So erzeugen zum Beispiel ‚Ganzheiten‘ (engl. wholes), wie sie durch Romane oder Architekturen ausgeprägt werden, genauso Einhegung und Sicherheit wie Exklusion. Und die Affordanz von ‚Rhythmen‘ besteht im Ordnen von Abläufen, wodurch sie – etwa in lyrischen Texten oder in klösterlichen Lebensformen – ebenso Vorhersehbarkeiten erzeugen wie Steigerungsdynamiken ermöglichen. Aufgrund ihrer Abstraktheit, so Levine, sind ‚Formen‘ wiederholbar und beweglich, treten aber stets in konkreten Kontexten auf. Ihre Affordanzen bleiben zwar konstant, können aber je nach Situation und in Überlagerung mit anderen ‚Formen‘ neue Operationalisierungen hervorbringen.
Mit stärkerem Bezug auf die Akteur-Netzwerk-Theorie und im Hinblick auf unterschiedliche Medien greift auch Rita Felski das Konzept der Affordanz auf, um Konnexe zwischen ästhetischen und sozialen Ordnungen zu beschreiben. Ihr geht es um spezifische Weisen wechselseitiger ‚Bindungen‘ (engl. attachments) zwischen Kunstwerken und Rezipierenden, wobei Fragen nach dem Angebotscharakter von literarischen Texten, Gemälden oder Musikstücken hinsichtlich der von ihnen eingeforderten und ermöglichten affektiven Dispositionen, Wahrnehmungsmuster und (Re-)Aktionsweisen interessieren. In der germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung wurden Fragen der Affordanz bislang primär im Hinblick auf Aspekte von Materialität und Dinglichkeit diskutiert (Eming und Starkey), insbesondere zur Beschreibung schrifttragender Artefakte (Lieb und Wagner) oder auch hinsichtlich publizistischer Formate (Dröse).
An diese Impulse – und die anderer Disziplinen – anschließend, soll insbesondere mit Blick auf die Relation von ästhetischen und sozialen Praktiken und den Form-Begriff Caroline Levines auf einer theoretischen Ebene nach weitergehenden Potentialen des Affordanz-Konzepts gefragt werden: Was würde etwa aus kunsthistorischer, ethnologischer oder filmwissenschaftlicher Perspektive eine Form in Levines Sinne konstituieren? Eine gemeinsame Diskussion von Fallstudien aus Sicht verschiedener Disziplinen und ihrer Gegenstände eignet sich für ein solches Vorhaben, da sie eine gewisse Abstraktionsebene erfordert und zugleich nah am Material erfolgen kann.
Folgende Leitfragen können zur Orientierung dienen:
- Welche Affordanzen ließen sich für bestimmte ästhetische Praktiken rekonstruieren? Aus literaturwissenschaftlicher Sicht kann etwa nach den Affordanzen von Schreibweisen, Gattungen, Erzählmustern oder Strophenformen gefragt werden. Welche Größen wären für andere Disziplinen interessant?
- Welche Affordanzen weisen Gegenstände der Darstellungsebene ästhetischer Praktiken wie etwa spezifische Motive, Symbole oder Metaphoriken auf?
- Welche überraschenden Potentiale entfalten sich, wenn Formen in neue Kontexte –auch in transkulturellen Konstellationen – überführt werden? Ändern sich ihre Affordanzen? Sind ‚Formen‘ dann noch als konstant aufzufassen?
- Welche Korrespondenzen zwischen ästhetischen Formen und sozialen Ordnungsmustern werden erkennbar? Wie lässt sich ihr Verhältnis elaborieren?
- Wie kollidieren möglicherweise ästhetische und soziale Formen und ihre Affordanzen?
- Inwiefern können Formen und ihre Affordanzen nicht nur integrativ, sondern auch destabilisierend wirken?
Gemäß des Ziels, ein interdisziplinäres Gespräch umzusetzen, sind Beiträge von Wissenschaftler:innen aller Fachrichtungen und Karrierestufen willkommen. Die Beteiligung von Doktorand:innen und Postdoktorand:innen ist ausdrücklich erwünscht.
Der Workshop wird in deutscher und englischer Sprache voraussichtlich in Präsenz in den Räumen des Berliner Sonderforschungsbereichs Episteme in Bewegung gehalten und vom dort angesiedelten Teilprojekt B02 (Das Wunderbare als Konfiguration des Wissens in der Literatur des Mittelalters) mit veranstaltet. Finanzielle Unterstützung ergeht ferner aus Mitteln der Alexander von Humboldt-Stiftung. Eine Publikation der Beiträge wird in Betracht gezogen.
Workshopkonzept: Jutta Eming, CJ Jones, Antonia Murath, Carolin Pape und Falk Quenstedt.
Kontakt:
Abstracts für einen 20–30-minütigen Vortrag in deutscher oder englischer Sprache (Umfang des Abstracts max. 300 Wörter) sowie eine Kurzvita mit Publikationsliste (sofern vorhanden) sind als pdf-Datei bis zum 30.04.2022 zu richten an Prof. Dr. Jutta Eming (j.eming@fu-berlin.de) und Prof. Dr. CJ (Claire Taylor) Jones (cjones23@nd.edu).
Literatur:
Albrecht Dröse: „Invektive Affordanzen der Kommunikationsform Flugschrift“. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 6 (2021), S. 37–62.
Jutta Eming, Kathryn Starkey: „Introduction: The Materiality and Immateriality of Things“. In: Jutta Eming, Kathryn Starkey (Hg.): Things and Thingness in European Literature and Visual Art, 700–1600. Berlin Boston: De Gruyter 2021, S. 1–20.
Rita Felski: Hooked. Art and Attachment. Chicago: University of Chicago Press 2020.
Richard Fox, Diamantis Panagiotopoulos, Christina Tsouparopoulou: „Affordanz“. In: Thomas Meier, Michael R. Ott, Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen: Konzepte - Materialien - Praktiken. Berlin Boston: De Gruyter 2015, S. 63–70.
James J. Gibson: The senses considered as perceptual systems. New York: Mifflin 1966.
—: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung / James J. Gibson. Übers. von Ivo und Erika Kohler und Marina Groner. Hrsg. von Ivo Kohler. Bern [u.a: Huber 1973.
—: The ecological approach to visual perception / James J. Gibson. Boston: Houghton Mifflin 1979.
—: Wahrnehmung und Umwelt: der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung / James J. Gibson. München [u.a: Urban & Schwarzenberg 1982 (= U-und-S-Psychologie).
Ian Hodder: Entangled: an archaeology of the relationships between humans and things. Malden, Mass. [u.a.]: Wiley-Blackwell 2012.
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (Engl. Orig.: Reassembling the social. An introduction to actor-network theory, Oxford u.a. 2007). Übers. von Gustav Roßler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
Ludger Lieb, Ricarda Wagner: „Dead Writing Matters?: Materiality and Presence in Medieval German Narrations of Epitaphs“. In: Fanny Opdenhoff u. a. (Hg.): Writing Matters. Presenting and Perceiving Monumental Inscriptions in Antiquity and the Middle Ages. Berlin Boston: De Gruyter 2017, S. 15–26.
Donald A. Norman: The psychology of everyday things. [1. pr.], New York, NY: Basic Books 1988.