Stéphane Mallarmés Papierarbeiten und die künstlerische Avantgarde um 1900
Projektverantwortliche: Prof. Dr. Cornelia Ortlieb
In diesem Teilprojekt soll eine kommentierte französisch-deutsche Fassung der Vers de circonstance/Verse unter Umständen Stéphane Mallarmés erarbeitet werden, die deren je spezifischer Materialität und Medialität gerecht wird, und die wissenschaftliche Rekonstruktion der französisch-deutschen ‚Avantgarde der Avantgarden‘ erstmals von ihren künstlerischen Objekten und Artefakten her unternommen werden. So sind z.B. über 30 Gedichte des als besonders ‚dunkel‘ und hermetisch geltenden Werks Mallarmés auf handelsübliche, industriell gefertigte Papierfächer geschrieben. Sie thematisieren zugleich den Fächer als luftiges Flügelwesen, Medium geheimnisvoller Botschaften und Bild-Schmuck und stellen mit ihren sorgfältig gemalten Buchstaben und ornamental gestalteten Signaturen kleine kalligraphische Kunstwerke dar. Mallarme selbst hat für die geplante Veröffentlichung dieser ‚Gelegenheitsgedichte‘ eine eigens so benannte Abteilung Éventails/Fächer vorgesehen, weitere 65 Adressen-Gedichte auf kleinen Briefumschlägen und Briefkärtchen sind von ihm selbst noch kurz vor seinem plötzlichen Tod für ein Buch mit dem Titel Loisirs de la poste/Vergnügen der Post zusammengestellt worden.
Die Pariser Buchausgabe der Vers de circonstance von 1920 mit insgesamt 18 Abteilungen, deren Texte seine Tochter Geneviève aus Mallarmés Nachlass zusammengestellt hat, umfasst insgesamt 482 Versgedichte zu verschiedenen Anlässen und Gelegenheiten, adressiert an den Kreis der Künstlerfreunde, ihre Ehefrauen und Kinder, aber auch an eine bedeutende Reihe von Künstlerinnen, besonders Musikerinnen, deren Arbeit und Eigenheit in vielen Billett- und Fächergedichten scherzhaft-galant gewürdigt wird. Nicht zuletzt umkreist eine Vielzahl der Gedichte werbend die gleichermaßen nahe und unerreichbare Geliebte und Freundin Méry Laurent, die als Schauspielerin, Tänzerin, Sängerin, Kunstsammlerin und Mäzenin einen der bedeutendsten (und letzten) Salons der Pariser Belle Époque unterhielt. Bei der Veröffentlichung dieser Schrift-Bild-Verbünde soll auch eine Auswahl der originalen Artefakte reproduziert werden, in einem zweisprachigen Band mit farbigen Abbildungen, mit erstmaliger vollständiger Übersetzung und punktuellen Anmerkungen, die angesichts der Mehr- und Vieldeutigkeit der meist äußerst verdichteten, anspielungsreichen Verse teils unverzichtbar für das Verständnis dieser bislang in Deutschland wenig bekannten Artefakte sind.
Die Eigenart solcher Papierarbeiten soll zudem in begleitenden Publikationen erforscht und in den Kontext zeitgenössischer avantgardistischer Schreibweisen und künstlerischer Praktiken gestellt werden. Für den Kontext der ‚Avantgarde der Avantgarden‘ sind dabei zunächst die Arbeiten Stefan Georges von besonderem Interesse, der mit verschiedenen Schreib- und Papierarbeiten die eigenwillige Bildsprache des französischen Dichters auch materialiter ins Deutsche übersetzt hat, darunter etwa Mallarmés Dramenfragment Hérodiade in aufwendiger bildkünstlerischer Gestaltung. Der Briefwechsel beider Autoren zeigt zudem ihre Bevorzugung kalligraphischer Formen für den Austausch von Komplimenten und Texten, für Widmungen und Grußadressen. Das Projekt wird somit auch der Erschließung solcher künstlerischer Papierarbeiten Georges und anderer zeitgenössischer Autoren gewidmet sein.