Positionssuche – Boals Theater der Unterdrückten und seine „Verwendung“ in Unternehmen
Im November 2013 besuchte ich ein Symposium der Berliner Theaterwerkstatt KURINGA mit dem Thema Wir alle sind Schauspieler. Sogar die Schauspieler selbst (Augusto Boal) – Zur Aktualität von Augusto Boals Theater der Unterdrückten. Die in Wedding ansässige Einrichtung unter der Leitung der Theatermacher Bárbara Santos, Christoph Leucht und Till Baumann widmet sich der Erforschung und multiplizierenden Verbreitung des Theaters der Unterdrückten von Augusto Boal. Zudem veranstaltet sie regelmäßig Qualifizierungsworkshops und unterstützt lokale Künstlerkollektive, die ihr Handeln auf soziale Transformationsprozesse ausrichten.
Zentraler Bestandteil der Abendveranstaltung war eine Gesprächsrunde, an der – neben Till Baumann – der Theaterpädagoge Prof. Dr. Gerd Koch sowie der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Henry Thorau teilnahmen. Beide ausgewiesene Boal-Experten: Henry Thorau, der Augusto Boal selber 1976 in dessen portugiesischem Exil kennengelernt und von da an eng mit ihm zusammengearbeitet hatte, hat dessen theatrales Lebenswerk durch seine Übersetzungen erstmals dem deutschsprachigen Leserkreis erschlossen und mit ihnen maßgebende Quellen für die Erforschung dieses politisch-emanzipatorischen Theaters geschaffen.
Die Zielsetzung der Veranstaltung war zweigeteilt. Zum einen sollten zwei dokumentarisch-literarische Neuerscheinungen vorgestellt werden: die Monografie Unsichtbares Theater von Henry Thorau sowie die erweiterte und aktualisierte Ausgabe von Boals Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, die Till Baumann übersetzt und herausgegeben hat. Zum anderen sollte die Frage diskutiert werden, welche Relevanz das Theater der Unterdrückten gegenwärtig für unsere Gesellschaft besitzt und in welchen sozialen Kontexten es Verwendung findet.
Ich möchte keine detaillierte Verlaufsbeschreibung der sehr gelungenen und äußerst interessanten Veranstaltung geben, sondern direkt zur Reflexion eines für meine Arbeit wichtigen Aspekts übergehen.
Neben den zahlreichen wertvollen Fachinformationen, spannenden Anekdoten und persönlichen Einschätzungen, die das Gespräch der drei kenntnisreichen Diskutanten mir als Zuhörer und Diskussionsteilnehmer ermöglichte, wurde meine Aufmerksamkeit erneut auf eine Problemfrage gelenkt, die für meine Forschung von großer Relevanz ist und wohl auch in Zukunft noch bedeutender sein wird: Die Frage, wie ich mich zu den diversen methodischen Bezugnahmen auf das Theater der Unterdrückten im zeitgenössischen Unternehmenstheater vor dem Hintergrund seiner ursprünglichen Konzeption im Sinne Augusto Boals positionieren sollte oder gar muss.
Immer wieder stoße ich bei meiner Untersuchung theatraler Interventionen in Wirtschaftsunternehmen auf Techniken und Methoden, die aus dem Theater der Unterdrückten zu stammen scheinen oder die explizit seitens der Anbieter als „diesen Ursprungs“ bezeichnet werden. So werden vor allem Techniken des Forum-Theaters, das unter dem Eindruck lateinamerikanischer Militärdiktaturen der 60er und 70er Jahre von Boal entwickelt wurde und dazu dienen sollte, über die szenische Darstellung real erfahrener Unterdrückungen im dialogischen Handlungsprozess zur Ermittlung von Veränderungspotenzialen zu gelangen, im Unternehmenskontext sehr häufig mit einer ganz anderen Zielsetzung eingesetzt. Dort soll es beispielsweise abteilungsinterne Kommunikationsprobleme lösen, Mitarbeiter zum Thema Kundenfreundlichkeit schulen oder bestimmte Widerstände gegen geplante Change-Management-Maßnahmen abbauen. Dies irritiert und macht skeptisch: Eine theatrale Form bzw. deren Mittel, die eigentlich aktiven Widerstand und Handlungsbewusstsein gegen etwas aufbauen soll/en, wird/werden nun in einem gänzlich anderen Kontext eingesetzt, um durch Aktivierung des Publikums Widerstand gegen etwas abzubauen. Während weiterhin Theatermacher wie die Mitglieder von KURINGA häufig über Jahre persönlich mit Boal gearbeitet haben und seine Methoden gegenwärtig in Schulen, Gefängnissen, Flüchtlingsheimen und anderen sozialen Einrichtungen mit einem humanistischen Bestreben einsetzen, wobei sie streng auf die Einhaltung der Grundlagen dieses Theaters achten, werden diese Techniken im Unternehmenstheater weitgehend losgelöst von ihren eigentlichen ethischen und politischen Ideen und Prämissen an den ökonomischen Kontext angepasst und verschiedenartig modifiziert.
Ich kann nachvollziehen, wenn auf Seiten derjenigen, die mit Boals Theaterästhetik arbeiten, um Menschen bei persönlichen Problemlagen zu helfen oder gemeinsam mit diesen gesellschaftliche Veränderungswege zu entwickeln, Vorbehalte gegenüber denjenigen bestehen sollten, die aus ihr Methoden modifizierend entnehmen und diese gegen Geld für wirtschaftlich-organisatorische Zwecke anbieten. Diese postmoderne und ökonomisierte Verwendungsform, die Boal selber strikt abgelehnt hat, bedarf zweifelsohne eines kritischen Blicks. Ich denke jedoch auch, dass es für mich selber nun erst einmal notwendig sein wird, mit einem offenen und unentschiedenen Blick diejenigen Unternehmenstheaterinterventionen, in denen mit Mitteln und Elementen aus dem Theaters der Unterdrückten agiert wird, zu betrachten und zu analysieren. Ich habe bereits ein paar Gespräche mit Anbietern von Unternehmenstheater geführt und sie mit meiner Skepsis hinsichtlich der Bezugnahme auf Boals Theater konfrontiert. Einige sahen kein Problem, andere konnten meine Gedanken nachvollziehen und gaben mir im Gegenzug einen Einblick in ihre persönlichen Ziele und Vorstellungen, die mich erkennen ließen, dass auch hier Theatermacher agieren, die bestimmte humanistische Ideale an ihre Arbeit mit den Boal’schen Techniken stellen. Sicherlich unterscheiden sich diese häufig von denen derjenigen, die mit Boals Theater und den Grundlagen seiner Ästhetik in nicht-ökonomischen Kontexten arbeiten, erheblich. Es gibt jedoch auch Gemeinsamkeiten.
Diese neben den Unterschieden wahrzunehmen und kritisch zu beleuchten, wird eine künftige Herausforderung sein, die insbesondere meine in diesem Jahr anlaufende Feldforschung begleiten wird.
(Januar 2014)