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Traveling Thoughts on the Sunny Side of Business Class

Immer klarer wird der Himmel, bemerke ich für mich, während der ICE 279 unaufhaltsam voranprescht und das eingenieselte, frühmorgendliche Berlin Kilometer um Kilometer weiter in die Ferne rückt. Ich fahre der Sonne entgegen und beim Verlassen des Zuges wird sie auf mich herabscheinen, so meine tiefe innere Überzeugung, die nicht von ungefähr kommt. Freiburg im Breisgau, das Ziel meiner Forschungsreise, ist ja statistisch gesehen die Stadt mit den meisten Sonnenstunden im Jahr. Rund 1740 verteilt auf 145 Tage und ein paar davon werden, da bin ich optimistisch, der Lohn für die fast siebenstündige Fahrt sein. Forschung quasi auf der Sonnenseite des bundesdeutschen Lebens, denke ich und erfreue mich still an meiner Profession. Ich schließe für wenige Minuten die Augen.

Schon toll diese Ledersitze - sehr angenehm diese Beinfreiheit - herrlich, Internet im Zug. Ich fühle mich ein wenig wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal in seinem Leben einen Freizeitpark besucht und mit großen Augen von den mannigfaltigen Reizen seiner Umgebung überfordert ist. Zufällig hatte sich mir, als ich meine Reise plante, die Möglichkeit geboten, ein Erste-Klasse-Ticket zum selben Preis wie eines der zweiten zu buchen. Und nun sitze ich hier und versuche vor allem eines: mir die leichte Euphorie, in die mich die Wahrnehmung und Entdeckung dieser für mich ungewohnt komfortablen Form des Reisens versetzen, nicht anmerken zu lassen. Denn für meine Mitreisenden, durchwegs Geschäftsleute, Businessprofis und Manager, gekleidet in maßgeschneiderte Anzüge, krawattiert und geschäftig, scheint diese bereits seit sehr langer Zeit ihren Reiz verloren zu haben, oder wohl zur Gewohnheit geworden zu sein.

Ich fühle mich exponiert. Nicht nur, dass mein leicht ausgeblichener grau-beiger Pullover unter den zahlreichen edlen Textilien der anderen Reisenden markant heraussticht, auch mein Unterfangen zu Fahrtbeginn, das neben mir klappernde Fensterrollo mit einem kleinen, zu einem Klumpen gefalteten und blass gelblichen Zettel zu fixieren, sorgte zwar für innere Zufriedenheit bei mir – sitzt bombenfest – jedoch auch für den ein oder anderen irritierten Blick. Ich klappe meinen Rechner auf. „Guten Morgen. Ich wünsche Dir einen wunderbaren Tag“, schreibe ich einer guten Freundin im Chat einer Social-Media-Plattform, auf die es mich obligatorisch beim morgendlichen Arbeitsbeginn verschlägt. Während ich beim Warten auf Antwort im Kopf einige Tagesarbeitspunkte hin und her jongliere, die ich auf der Fahrt abarbeiten möchte, erklärt mein mir gegenüber sitzender Tischnachbar einem „Business-Unit-Partner“ mit gestresster Miene via Telefonkonferenz, dass es heute kein „Jour fixe“ geben würde, man auf weitere „reports“ warten müsse und erst anschließend gemeinsam mit dem „managing director“ und einigen „FAL’S“ ein neues „budget and risk paper“ für die anstehenden Investitionen realisieren könne. PLING. „Danke, den wünsche ich Dir ebenfalls. Was machst Du heute?“, antwortet und fragt meine Freundin. Ich schreibe ihr stolz von den Ledersesseln, der Beinfreiheit und dem mobilen Internet. Der Manager hat mittlerweile sein Telefonat beendet und träufelt sich Augenbefeuchtungsmittel in seine leicht geröteten Augen. Anschließend nascht er ein Gummibärchen zur Regeneration. Es ist ein rotes.

Mir wird einmal mehr bewusst, wie schon des Öfteren im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit zu Theater in Wirtschaftsunternehmen, dass ich hier in einen besonderen Kontext eingedrungen bin, der seine ganz eigenen und von meinem Standpunkt aus „anderen“ Gesetzmäßigkeiten hat, in denen Menschen auf spezifische Weise agieren und die ihnen bestimmte Freiräume und Grenzen auferlegen. Eine eigentlich recht banal anmutende Erkenntnis, die nun jedoch, während ich mir meiner gefühlten Andersartigkeit innerhalb der Business Class des ICE gewahr werde, eine erhebliche Relevanz erhält. Ich sehe, dass es umso mehr in meiner Verantwortung liegt und liegen wird, derartige Kontexte der ökonomischen Sphäre zu verstehen und zu kennen, wenn ich voller Konzentration in der Lage sein möchte, in ihnen Forschungsergebnisse zu ermitteln. Die Tatsache, dass mich die Spezifik des Erste-Klasse-Abteils so sehr zur Selbstwahrnehmung und zu einem Gefühl des intrakontextuell Herausgehoben-Seins verleitet, sollte eine Aufforderung sein, sich ähnlichen, zukünftigen Kontexten in meiner weiteren Arbeit noch offener und neugieriger zu nähern, um sie besser fassen zu können. Dies bedeutet nicht Assimilation in Form einer Leugnung der eigenen Sphäre (ich werde auch bei zukünftigen Erste-Klasse-Fahrten meinen Lieblingspullover nicht gegen einen Boss-Anzug tauschen!), sondern eine Fokussierung und Reflektion der Besonderheiten der anderen mit einem weiten und aufgeschlossenen Blick.

Während meine Zugreise langsam ihrem Ende naht, finde ich mich damit ab, dass meine Hoffnung auf Freiburger Sonnenschein wohl unerfüllt bleiben wird. Eine dichte graue Regendecke lässt der Sonne kein Schlupfloch. Vertieft in ein Gefühl der Heiterkeit über meine Naivität zu Beginn der Reise schaue ich nach rechts in die Augen eines anderen Geschäftsreisenden, der mit sorgenvoller Stirn vor seinem Laptop sitzt. Als sich unsere Blicke treffen, vollendet er den Satz, den er kurz vor unserem Blickkontakt begonnen hatte: „…, Scheiße!“ Und ich … ich lächle.

  

(Dezember 2013)