American Werewolf Academics in Catalonia
Ort: IFTR-Konferenz, Barcelona, Spanien
Datum: 25.07.2013, 12:00 Uhr
Mondphase: drei Tage nach Neumond
Meinen Kenntnissen in Popkultur, Mythologie und Aberglauben zufolge wäre es ratsam gewesen, eine Silberkugel dabeizuhaben: Im General Panel 6 der IFTR-Konferenz Re-Routing Performance berichtet ein US-amerikanischer Professor vom Durst auf Blut und heult zum Abschluss seines Vortrags wie ein Wolf.
Kein Grund zur Beunruhigung, Michael Chemers ist Associate Professor of Dramatic Literature an der University of California in Santa Cruz, der Mann hat Humor und sein Heulen ist ein mündliches Zitat. Ich befinde mich in einem Panel über Identitätskonstruktion, Märtyrer, Gefangene und ‚monströse Identitäten’, Michael Chemers forscht über Werwolf-Prozesse vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Ich lerne, dass die berühmte Silberkugel mir kaum etwas genützt hätte, da sie der Werwolf-Mythologie erst durch die Fiktionen des 20. Jahrhunderts hinzugefügt wurde. Chemers berichtet, dass die Werwolf-Identität das Interesse des Theaterwissenschaftlers insofern wecken kann, als dass sie über die mythologische Figur in Aberglauben und Popkultur hinaus auf den ‚Bühnen’ der Gerichte vom 15. bis ins 19. Jahrhundert hinein durch Performanz konstruiert wurde. Tatsächlich gab es zeitweilig die Möglichkeit, sich vor Gericht darauf zu berufen, Werwolf und damit seiner Verbrechen nicht schuldig zu sein. Dies schützte selbstredend nicht vor Exekution, sondern lediglich vor weiterer Befragung unter Anwendung von Folter.
Michael Chemers präsentiert im Fortlauf seines Vortrags allerdings auch nicht mehr und nicht weniger als sechs Fälle aus dem Jahr 2011, in denen (höchst wahrscheinlich psychotische) Kriminelle ihre Taten damit rechtfertigen, sich nachts in Wölfe verwandelt zu haben. Insofern lebt die Werwolf-Identität ein unheimliches Dasein auf den Schwellen der Realität, dass durch den tradierten Volksglauben, der in die Popkultur diffundiert ist, von Zeit zu Zeit performativ hervorbricht.
Nach seinem Panel komme ich mit Chemers ins Gespräch. Aufgrund meiner Arbeit zur Konstruktion des ‚monströsen Deutschen’ im angloamerikanischen Horrorgenre weiß ich um die befremdliche Affinität der Nazis zu Wolfsmetaphern, die letztlich aus dem Vornamen Hitlers selbst herrühren. „Wolfsschanze“, „Wolfsrudelformationen“ im U-Bootkrieg und eben jene Freischärlerbewegung Werwolf, HJ-, SS- und Wehrmachtsangehörige, die gegen Kriegsende auf Geheiß Heinrich Himmlers als Schläfer-Attentäter rekrutiert wurden und Anschläge in Deutschland unter alliierter Besatzung durchführen sollten … Stoff für Alpträume des amerikanischen Genrekinos.
Befremdlich erscheint, dass der Werwolf von der Nazi-Propaganda nicht als das Fremde konstruiert wird, sondern man sich mit den transportierten Konnotationen der Stärke und des Rudels als Volksgemeinschaft geradezu identifiziert. Noch befremdlicher in diesem Zusammenhang ist es daher, dass umgekehrt der juristische Vorwurf, ein Werwolf zu sein, ausgerechnet auch ein Machtmittel des Antisemitismus der Frühen Neuzeit war.
Michael Chemers hat Kenntnis des historischen Kommando Werwolf und ist interessiert an der Verhaftung der gleichnamigen rechtsextremen Neonazi-Terrorzelle im Juli 2013, dem jüngsten Fall, in dem der Werwolf als Metapher gewaltsam und zunächst von der Gesellschaft unbemerkt an die Oberfläche bricht.
Der Werwolf-Forscher und ich reden bei einer Tasse des exzellenten spanischen Kaffees eine ganze Weile über Othering, das Monströse und populäre Kultur, verpassen dabei versehentlich das nächste Panel. Wir tauschen Karten aus.
Ein Satz hallt lange nach: Chemers betont das geradezu unverschämte Glück des Geisteswissenschaftlers, exakt über das schreiben zu können, was ihn wirklich interessiert.
Michael Chemers: Staging Stigma: A Critical Examination of the American Freak Show. Palgrave Studies in Theatre and Performance History. New York: Palgrave MacMillan, 2008.
(November 2013)