Serious Games V: Simulanten und Simulation
Florian Evers
Herr Dr. Schuknecht, normalerweise sind wir natürlich per „Du“, da wir uns inzwischen fast 20 Jahre kennen. Eingedenk dessen, dass dieses Interview auch in Ihrem engeren Kollegenkreis Beachtung finden könnte, habe ich mich vorab entschlossen, dennoch die förmliche Anrede zu wählen – ein gelungenes Beispiel für Alltagstheatralität, das wir wahrscheinlich beide in der nächsten Stunde als leicht befremdlich empfinden werden.
Sie sind Facharzt für Allgemeinmedizin, praktizieren in einer Gemeinschaftspraxis in Preetz, Schleswig-Holstein und haben sich dazu entschieden, im Rahmen Ihrer Tätigkeit auch angehende Kolleginnen und Kollegen – also Studierende der Medizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel in ihrer Ausbildung zu begleiten und ihnen Prüfungen abzunehmen.
Und hier wird es bereits interessant für mich, der sich mit Applied Theatre in Personalauswahlverfahren und Personalentwicklung beschäftigt, denn wie Sie mir vor etwa einem halben Jahr geschildert haben, benutzen Sie offenbar eine Form angewandten Theaters oder zumindest eine „theatrale Form“, um Ihre Studierenden zu testen. Erläutern Sie doch mal, wie eine solche Szene im Test aussieht.
Simon-Vitus Schuknecht
Schönen guten Abend, Herr Evers. Vielen Dank, dass Sie mit mir dieses Interview führen, da es auf wunderbare Weise Ihre Passion mit der meinigen verknüpft.
Ich habe im Frühjahr dieses Jahres zum ersten Mal als Prüfer an der sogenannten OSCE-Prüfung teilgenommen. OSCE steht für Objective Structured Clinical Examination und ist eine spezielle Form der studentischen Prüfung. Ziel dieser Prüfung ist es, Studierende des 2. Abschnitts des Studiums – dem klinischen Abschnitt – möglichst realitätsnah zu prüfen. Die Prüfung wird mittels Intervall-Skalierung bewertet und muss als ein Teilaspekt von Prüfungen bestanden werden, um den Schein für das Fach Allgemeinmedizin an der Universität Kiel zu erhalten. Ohne diesen Schein ist das Studium der Medizin nicht abzuschließen.
Der Einfachheit halber nutze ich in diesem Interview die männliche Form der Anrede bzw. Personenbeschreibung. Kennzeichnend für die Prüfungssituation ist der Einsatz eines Schauspielers, der einen Patienten spielt. In einem Raum sitzen der ‚Schauspielpatient’ und der Prüfer. Der Raum ist ausgestattet mit einem Tisch mit zwei Stühlen, an dem der ‚Schauspielpatient’ sitzt, einem Tisch mit einem Stuhl, an dem der Prüfer sitzt, und einer Untersuchungsliege. Der Prüfer sitzt mit etwas Abstand hinter dem ‚Schauspielpatienten’, so dass er den Prüfling, der dem ‚Schauspielpatienten’ gegenüber sitzt, direkt anblicken kann. Der ‚Schauspielpatient’ wird vor der Prüfung genauestens instruiert, welche fiktive Erkrankung er hat, wie er sie spielen soll, und welche Symptome er bei einer Untersuchung vorspielen soll, des Weiteren erhält er eine dezidierte Vita. Eigene, reell existierende Erkrankungen des Schauspielpatienten sollen explizit nicht angegeben bzw. bei der Untersuchung möglichst kaschiert werden. Der nun den Raum betretende Prüfling wird mit einleitenden Worten vom Prüfer persönlich mit Namen begrüßt. Er bekommt den Zeitrahmen der Prüfung – in meinem Fall 20 Minuten – mitgeteilt, anschließend wird mit den Worten „Hier sitzt Ihr Patient, fangen Sie bitte an!“ die Prüfung gestartet. Der Prüfling muss nun in den 20 Minuten den Patienten strukturiert befragen und untersuchen. Ziel der Befragung und Untersuchung ist es, die fiktive Krankheit zu erkennen, differentialdiagnostische Überlegungen anzustellen und dem Patienten Diagnostik- und Therapievorschläge zu unterbreiten. Dabei wird einerseits auf die Kommunikationsweisen und den Umgang mit dem fiktiven Patienten Wert gelegt. So sollte zum Beispiel die Verwendung von für den Laien – also gemeint ist der fiktive Patient – unverständlichen Fachvokabulars vermieden werden. Weiterhin werden die vom Prüfling gestellten Fragen und angewendeten Untersuchungstechniken mit einer dem Prüfer vorliegenden Liste abgeglichen. Bei korrekten Fragen und Untersuchungen, in diesem Falle sind sinnvolle, krankheitsrelevante Fragen und Untersuchungen gemeint, gibt es pro Frage bzw. Untersuchung 1 Punkt. Die maximale Punktzahl beträgt in meinem Fall 40 Punkte. Der Schauspielpatient darf innerhalb der 20 Minuten nach Ermessen des Prüflings befragt und untersucht werden. Der Schauspielpatient muss sich dafür z.T. auch entkleiden. Die Prüfung endet spätestens nach 20 Minuten oder vorher, wenn der Kandidat glaubt, fertig zu sein. Das Besondere an der Prüfung ist, dass der Geprüfte vom Prüfer kein unmittelbares Feedback bekommt, auch nicht am Ende der Prüfung. Er erfährt das Ergebnis erst später. Bei Fragen, die während der Prüfung vom Prüfling an den Prüfer gestellt werden, verweist der Prüfer den Prüfling auf den Schauspielpatienten und bittet ihn, sich direkt an diesen zu wenden. Der Prüfling soll sich nur mit dem ‚Schauspielpatienten’ auseinandersetzen, so als wäre er alleine mit einem echten Patienten in einem Arztbehandlungszimmer. Dies stellt die Besonderheit der OSCE-Prüfung da.
F.E.
Wo genau sind denn diese Räumlichkeiten, in denen die Prüfung stattfindet?
S.V.S.
Die Prüfung findet im Haus der Lehre auf dem Campus des UKSH statt.
F.E.
Und sind das im Alltag echte Krankenzimmer?
S.V.S.
Nein, es handelt sich um ein Haus, in dem nur Ausbildung, aber keine echte Patientenversorgung stattfindet.
F.E.
Das Wort „realitätsnah“ fiel ja vorhin im Bezug auf diese Prüfung. Wenn das auf ein Rollenspiel angewendet wird, wird der Theaterwissenschaftler hellhörig. Man könnte sich eine solche Prüfung ja nun auch auf dem Zettel vorstellen, auf dem steht: „Ein Patient mit folgenden Symptomen kommt zu Ihnen...“, etc. Was ist der Vorteil des Schauspiels gegenüber Papier?
S.V.S.
Der Prüfling kann eine reelle Untersuchung nicht imaginieren. Er muss in direkten Kontakt mit dem Menschen kommen, er muss anfassen, hören, riechen und die Mimik bei der Untersuchung sehen, um nur einige Aspekte der körperlichen Untersuchung hervorzuheben. Nur so kann er Erfahrung am Patienten erlangen und seine Expertise im Umgang mit und am Menschen verbessern. Des Weiteren ist der Umgang des Prüflings mit einem reellen Menschen, auch wenn er eine Rolle spielt und eine Erkrankung vorspielt, dennoch ein echter zwischenmenschlicher Kontakt im Sinne eines besonderen Arzt-Patienten-Kontaktes mit Überschreitungen von Grenzen – wie Individualdistanzen, partieller Nacktheit usw. – mit besonderen gesellschaftlichen Spielregeln. Und diese Regeln muss der Prüfling reell umsetzen, auch wenn es sich um einen ‚Schauspielpatienten’ handelt. Zusammenfassend lernt der Prüfungskandidat also mehrdimensional: interrogativ in der direkten Befragung mit all den Nuancen der menschlichen Sprache und Mimik, haptisch, optisch, akustisch und olfaktorisch in der direkten Untersuchung des Menschen und moralisch-ethisch in der besonderen geschützten Situation im Umgang mit Menschen und abgesprochenen „erlaubten“ Grenzüberschreitungen. Die vorangegangenen Beschreibungen des Lernens mit, um und am Menschen lassen sich dementsprechend auch nur sinnvoll am Patienten bzw. ‚Schauspielpatienten’ abprüfen.
F.E.
Das Schauspiel sorgt hier also ganz ähnlich wie in Managertrainings, Personalauswahlverfahren und auch militärischem Planspiel für Authentizität und die Ausbildung der intersozialen „Softskills“.
Interessant finde ich nun auch Ihre Beobachtung, dass ein Prüfling sich an den Prüfer wendet, der ihn darauf verweist, mit dem „Patienten“ direkt zu sprechen. Hier wird sehr deutlich, wie sich eine kurzfristige und auch leicht instabile Fiktion aufbaut, die gewahrt werden soll: das „Als-Ob“ einer Theaterszene im klassischen Sinne. Die Spielrahmung gilt per definitionem als konsequenzmindernd. Der Prüfling ist hier nun gerade ernsten Konsequenzen ausgesetzt: Gelingen oder Scheitern seiner Ausbildung. Ich nehme aber an, dass keine echten Patienten für Prüfungen herangezogen werden, um diese zu schonen? Im Managementtraining heißt es spaßeshalber, der Seminarschauspieler sei ein „Crashtestdummy“. Ich vermute, es verhält sich mit dem Patientenschauspieler ähnlich?
S.V.S.
Richtig, es werden keine echten Patienten eingesetzt, um diese durch redundante Untersuchungen nicht zu gefährden und gleiche Prüfungsvoraussetzungen für alle Prüflinge zu schaffen. Es handelt sich um Laienschauspieler, Schauspielstudierende oder professionelle Schauspieler. Es gibt jedoch in anderen Ausbildungsabschnitten des Medizinstudiums auch Ausbildung an echten Patienten. Das hat aber mit dem Konzept der OSCE-Prüfung nichts zu tun.
F.E.
Gibt es Gage, wenn es schon keinen Applaus gibt?
S.V.S.
Die Schauspieler erhalten eine Aufwandsentschädigung von 15 € pro Stunde und gegebenenfalls Fahrgeld.
F.E.
Und spielt man denn eher diffuse Symptome, oder kommt – wie bei Übungen zum Katastrophenschutz oder beim militärischen Planspiel – auch schon einmal der Schminkkasten zum Einsatz?
S.V.S.
Es werden ganz konkrete Symptome gespielt. In meinem Fall ging es um eine Sonderform von Rückenschmerzen. Hier braucht es keinen Schminkkasten, sondern nur gutes schauspielerisches Talent. Auch bei anderen Prüfungsthemen kommen in aller Regel keine Schminkutensilien zum Einsatz, gelegentlich mal Hilfsmittel wie ein PC zu einer Risikoberechnung oder Spritzen zur Impfung, die in einen Gummi-Dummy gestochen werden.
F.E.
Mise en abyme wäre es ja, einen Simulanten zu simulieren ... ich frage Sie jetzt nicht, ob das vorkommt, das ist eher geisteswissenschaftliche Denkspielerei.
Abschließend würde mich aber Folgendes interessieren: Da wir in unserem Projekt auch an den historischen Wurzeln des Angewandten Theaters interessiert sind, wissen Sie etwas darüber, wie lange dieser Test schon in dieser Form in Kiel oder in Deutschland vorgenommen wird, bzw. wo dieses Verfahren herkommt?
S.V.S.
Den ‚Schauspielpatienten’ einen Simulanten spielen zu lassen, der seine Simulation pathologisch aufrecht erhält, wie man es zum Beispiel bei dem psychiatrischen Krankheitsbildes des Münchhausen-Syndroms kennt, nun ja, das wäre wahrlich eine sportliche Prüfung für einen Studenten und eine eher medizinisch-psychiatrische Denkspielerei.
Aber um zu Ihrer Frage zu kommen: Es gibt diese Form der Prüfung am UKSH seit circa fünf Jahren. Vorher gab es kurze Rollspiele innerhalb kleiner Studentengruppen. Das Verfahren gab es auch schon vorher seit einigen Jahren an anderen Universitäten in Deutschland, bevor es in Kiel implementiert wurde.
F.E.
Herr Dr. Schuknecht, ich danke Ihnen, dass Sie sich nach Ihrem anstrengenden Praxisalltag Zeit genommen haben, um mir dieses Interview zu geben.
S.V.S.
Sehr gerne, danke für Ihr Interesse an der Allgemeinmedizin und der Ausbildung der Studenten am UKSH.
(Mai 2015)