Gastvortrag von Prof. Dr. Tan Yuan (Wuhan)
Moderation: Cheng Lin
Sprache: Chinesisch
In China wurde Goethe nicht von Anfang an als Dichter rezipiert. Er war zuerst ein erfolgreicher Politiker „Guo Ci“ im Tagebuch des chinesischen Diplomaten Li Fengbao. Dann war er ein „bekannter Philosoph E Te“ in der Übersetzung des berühmten Konfuzianer Gu Hongming. Schließlich wurde er in den Abhandlungen von Professor Wang Guowei zum großen Dichter, dessen Werk zur Neubelebung der Nation beitragen sollte. Der wichtigste Einfluss von Goethe in China war jedoch der sogenannte „Faustgeist“, der die jeweilige Zeit prägte. Unter dem Einfluss der Vierten-Mai-Bewegung interpretierte der Revolutionär Zhang Wentian 1922 die Lebensanschauung in Goethes Faust als Aktivismus aus „ewiger Ungenügsamkeit“, der die „konservativen, genügsamen Chinesen“ anspornen sollte. Vor den Kriegsdrohungen in den 1930er und 40er Jahren beschörten Guo Muoruo und Feng Zhi den „Faustgeist“ der zur „Selbststärkung ohne Unterlass“ sowie zur „Selbstaufopferung für Freiheit und Befreiung“ der chinesischen Nation in einer kritischen Zeit beitragen sollte. Nach dem Ende der Kulturrevolution wurde der „Faustgeist“ wiederum zum unermüdlichen Streben nach Wahrheit sowie zur Wertlegung auf Realität und Praxis angerufen. Erst in den letzten zehn Jahren wurde die „Selbststärkung“ im Faust angezweifelt und als menschliche Tragödie aus unendlicher Lust neu interpretiert. Die Verwandlung des „Faustgeistes“ zeigt uns einen einzigartigen „Einbürgerungsweg“ der chinesischen Goetherezeption auf.
Zeit & Ort
03.08.2016 | 15:00
JK 28/130 (Rostlaube),
Habelschwerdter Allee 43, 14195 Berlin