Workshop: Gabe und Gegengabe in modernen Gesellschaften. Methodologische Probleme
Viele Texte, denen im Laufe der Zeit der Status eines Klassikers zuwächst, haben gemeinsam, dass sie nicht nur eine einzige Deutung zulassen, sondern offen sind für eine Vielzahl unterschiedlichster Lesarten. Dies gilt auch für Marcel Mauss’ Anfang der 1920er Jahre veröffentlichten Essai sur le don. Mauss war zwar nicht der erste, der sich mit den Praktiken des Gabentausches befasste; es lag bereits eine relativ umfassende ethnographische Literatur zu diesem Thema vor. Anders als seine Vorläufer ging Mauss jedoch das Wagnis ein, die ethnographischen und historischen Befunde miteinander zu vergleichen, ihre Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und auf dieser Basis eine Reihe von allgemeinen Schlussfolgerungen zu ziehen. Indem er sich sowohl vergleichend als auch verallgemeinernd betätigte, gelang es ihm, eine Reihe von Strukturmerkmalen zu identifizieren, die für die Ordnung der Gabe grundlegend sind. Er war der erste, der in den oftmals exotisch oder archaisch anmutenden Praktiken des Gabentausches ein grundlegendes soziales Phänomen erkannte.
Der theoretische Diskurs über die Gabe hat sich seitdem als außerordentlich produktiv erwiesen. Damit einhergehend hat er sich allerdings auch in einem Maße diversifiziert, das es sehr schwer macht, die verschiedenen Rezeptionslinien und Fortführungen überhaupt noch auf ein Set an gemeinsamen, von allen geteilten Grundannahmen zurückzuführen. So unterschiedlich wie die Theoriefelder, in die Mauss’ Theorie eingeführt wurde, so unterschiedlich sind auch die Phänomenbereiche und Anwendungsgebiete, die man gabentheoretisch zu erhellen suchte. Nicht selten wurde der Essai sur le don dabei auch von theoretischen Unternehmungen in Anspruch genommen, die sich zwar auf Mauss berufen, mit seinem Begriff der Gabe jedoch kaum noch etwas zu tun haben. So erscheint uns etwa die Gegenseitigkeit, also dass die Gabe mit einer Gegengabe erwidert wird, ein unverzichtbares Merkmal jeder Gabe-Theorie zu sein, die an Mauss anzuschließen beansprucht – eine Annahme, die aber etwa von Derridas Konzeption der „reinen Gabe“ nicht geteilt wird.
Von diesem Befund ausgehend zielt der geplante Workshop darauf ab, eine methodologische Reflexion über den Diskurs der Gabe anzustoßen. Was genau ist es, das mit dem Begriff der Gabe auf dem Spiel steht? Worum geht es dabei? Worin liegt die Bedeutung des gegenseitigen Gabentausches? Inwiefern lassen sich Mauss’ Überlegungen, die sich zu einem großen Teil dem Studium spezifischer, aus europäischer Sicht ‚fremder‘ Gesellschaften verdanken, auch auf andere gesellschaftliche und kulturelle Formationen übertragen? Welche Kriterien könnte es dafür geben? Welche Teilbereiche der modernen westlichen Kultur (Recht, Moral, Religion, Verwandtschaft, Gesundheitssystem etc.) weisen möglicherweise heute noch Merkmale des Gabentausches auf? Trifft es zu, dass auch moderne Gesellschaften, wie von Mauss behauptet, „untergründig“ immer noch auf der Ordnung der Gabe und Gegengabe beruhen? Falls ja, gilt dies dann für die Sozialität als Ganze, bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche oder nur die Sphäre der Nahbeziehungen? Welche der Überlegungen und Einsichten von Mauss lassen sich für die Analyse moderner Verhältnisse fruchtbar machen? Inwiefern ist es nötig (und bis zu welchem Grade sinnvoll), hierfür Änderungen an seiner Theorie vorzunehmen?
Diesen Fragen möchten wir bei unserem Workshop am 5. April 2019 nachgehen. Ziel ist es, in einem zunächst eher kleinen Kreis eine Debatte anzustoßen, die dann später auf weiteren Workshops fortgeführt werden soll. Wir würden uns von den Beiträgen wünschen, dass sie die genannten methodologischen Probleme der Theorie von Gabe und Gegengabe zum Thema machen.