Unterrichts-Verfassung 1916
Unterrichts-Verfassung der Gymnasien und Stadtschulen - Vom 12. Januar 1816
Aus:
Kleine Pädagogische Texte Bd. 30.
Hrsg. von Carl-Ludwig Furck, Georg Geißler, Wolfgang Klafki und Elisabeth Siegel.
Schulreform in Preußen 1809-1819. Entwürfe und Gutachten.
Bearbeitet von Lothar Schweim. Weinheim/Bergstr.: Verlag Julius Beltz 1966.
| [68]
§ 7. Kursus im Lateinischen
Wenn hier der lateinische Sprachunterricht voranstehet, so soll dadurch
die Frage über die Priorität des Griechischen nicht dieser absolut zuwider
entschieden werden. Vielmehr behält sich die Abtheilung für den Kultus
und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Innern in einzelnen Fäl-
len, wenn die Lehrer einer Anstalt sich darüber einigen, den Unterricht
im Griechischen dem im Lateinischen vorangehen zu lassen, nach Vor-
legung ihres Planes die Entscheidung vor.
1) Das der untersten Klasse zustehende Pensum ist fertiges durch Uebung
und Vorsprechen erlerntes Lesen des Lateinischen nach der Quantität der
Penultima. Sodann müssen die analogen Formen erlernt werden, also die
fünf Deklinationen, das Verbum, Substantivum, die vier Konjugationen,
die Regel über das Genus, sowohl die allgemeinen als besondern mit
Weglassung der Ausnahmen, die Präpositionen, und welchen Kasus sie
regieren, endlich die Konjunktionen, welche allemal mit dem Konjunktiv
verbunden werden. Bei dieser Gelegenheit kann schon eine ziemliche An-
zahl von Nominibus, Substantivis und Adjectivis auch Verba, alle jedoch
aus der sinnlichen Sphäre erlernt werden. Praktische Uebung kann hierin
nicht alles leisten, sondern das Gedächtniss muss durch fleissiges Memo-
riren kräftig angestrengt werden, mit diesem aber kann dann jene zusam-
mengehen, indem zu dem Obigen hinzukommt, die Einsicht in die Kon-
struktion einfacher Sätze, und selbstthätiges Bilden derselben, wie auch
Exponiren in irgend einem guten Elementarbuche.
2) In der nächsten Klasse, oder in Quinta wird ausser der beständigen
Wiederholung des Gelernten und der erhöhten Deutlichkeit der Einsicht
in die Natur der Redetheile nebst völliger Geläufigkeit der aufgenommenen
und hergebrachten grammatischen Kunstwörter, die ganze Anomalie der
Formlehre erlernt. Bei Gelegenheit der Bildung ausgedehnter und zu-
sammengesetzter Sätze, werden auch die nothdürftigsten Regeln der Wort-
fügung eingeprägt. Dabei wird jedoch, ohne die obige Beschränkung, das
Vokabellernen fortgesetzt, grössere Stücke aus dem Elementarbuche ge-
lesen, | [69] und aus der deutsch angefertigten Uebersetzung ins Lateinische zu-
rückübersetzt, welche Uebung jedoch nur mündlich und unter Einwirkung
des Lehrers vorgenommen werden muss.
3) In der nächsten Klasse muss der Unterricht schon strenger als bisher
auf Fertigkeit im eigenen Ausdruck gerichtet werden. Die Lektüre wird zu
dem Endzweck mehr abgesondert, und von jetzt an bis zur nächsten Klasse
werden zwei Stylstunden angeordnet, wovon eine zu häuslichen Exercitiis,
die andre zu sogenannten Extemporalien verwandt wird. Neben diesen
läuft in der vierten Klasse eine grammatische Stunde, welche, mit jenen
Uebungen genau verbunden, sich besonders auf die Wortfügung bezieht.
Eben so werden jetzt die prosodischen Regeln am zweckmässigsten bei der
Lektüre des Phädrus eingeübt und das Skandiren des Jambus gelehrt. Als
Schriftsteller sind ausser dem Phädrus noch Eutropius und Aurel. Victor
zu lesen. Doch wird auch in dieser, wie in den folgenden Klassen noch
der Gebrauch guter, dem Standpunkte derselben angemessener Chresto-
mathien neben den Auktoren gestattet. Jene geben noch kleinere leichter
aufzufassende Parthien und führen zur Bekanntschaft mit mehreren Schrift-
stellern, indem diese zur Uebersicht des Ganges und Planes grösserer, aber
noch einfacher Werke leiten.
4) Die nächste Klasse führt den Schüler in das Gebiet der römischen
Poesie ein. Es werden Ovids Metamorphosen in zweckmässiger Auswahl
gelesen. Diese und Proben aus den „libris Tristium“ lehren das Distichon
kennen. Zur metrischen Uebung dient die Wiederherstellung verworrener
Verse oder die Uebertragung leichter Prosa in Jamben. Von Prosaisten
können Justinus, Cäsar, Curtius auch Cornelius Nepos, dieser jedoch
nicht ohne die erforderlichen historischen Ergänzungen und Erläuterungen
gelesen werden. Die Lektüre scheidet sich zwar in statarische und kurso-
rische, aber ohne dass es nöthig wäre, für jede Art besondere Schriftsteller
zu bestimmen, indem beide nach Verschiedenheit der Stellen fast bei jedem
Auktor Anwendung finden, und es überall darauf ankommt, dass der
Schüler nichts, den vollen richtigen Sinn Betreffendes, übersehe. Kleinere
oder grössere Stücke aus den gelesenen Dichtern und Prosaisten werden
in dieser Klasse, wie in den folgenden auswendig gelernt und recitirt. Die
Stylübungen werden länger, verwickelter, und durch ihren Inhalt schwie-
riger.
5) In der zweiten Klasse eignet sich zur Lesung von Prosaisten Livius,
der in zweckmässiger chrestomathischer Auswahl, oder in historischer
Folge gelesen, einen Faden für die Geschichte der römischen Republik
darbietet, und Cicero in den Reden, der ausser der Rücksicht auf die Spra-
che, | [70] auch zur genauern Kenntniss einer der bedeutendsten Perioden in der
römischen Geschichte, wie zur Vorübung im Auffassen grösserer und
zusammengesetzter Kunstwerke wichtig ist. Die ciceronianischen Reden
bieten häufig Gelegenheit dar, einzelne Briefe zur Erläuterung zuzuziehen,
die Lektüre beider lässt sich aber passend mit einander verbinden. Von
Dichterwerken ist Virgils Aeneide zu lesen. Die schriftlichen Uebersetzun-
gen sind theils zu desto schärferer Auffassung des Sinnes, theils zur
Uebung des deutschen Styls an Mustern der alten klassischen Sprachen
und zur Vergleichung des Charakters beider, hier so wenig als sonst
irgend bei der Lektüre der Alten, vorzüglich der Prosaisten, hintanzu-
setzen. Die Stylübungen für welche auch das Uebersetzen aus dem Grie-
chischen und Lateinischen sehr zu empfehlen ist, werden durch Ausdeh-
nung und höhere Forderungen noch schwieriger. Bei Gelegenheit dieser
und der Lektüre des Virgils müssen auch die metrischen Uebungen
theoretisch und praktisch fortgesetzt werden, nicht nur in dem Hexameter,
sondern auch in andern Silbenmassen. In dieser und der folgenden Klasse
muss bei Erklärung der alten und in allen Lektionen antiquarischen Inhalts
lateinisch gesprochen und die Fertigkeit in lateinischer Rede fleissig geübt
werden.
Die mündlichen sowohl als schriftlichen Uebersetzungen ins Deutsche
werden dadurch nicht ausgeschlossen.
6) Der Unterricht in der ersten Klasse kann die mannigfaltigsten Ab-
wechselungen erhalten, ohne jedoch heterogene, oder nicht völlige be-
währte Schriftsteller zur Lektüre zu wählen; da der Zweck der Schule
nicht sein kann, mit dem ganzen Umfange der Litteratur bekannt zu ma-
chen. Zu der vielseitigern, und mit auf die Gattungen des Styls Rücksicht
nehmenden Uebung im Schreiben kommt hier noch das Sprechen, welches
besonders bei der Erklärung eines schweren Auktors geübt werden kann.
Für die Dichterlektüre eignet sich ganz besonders Horaz in den Oden
sowohl, als den Sermonen und Episteln, und Virgils Georgika. Die hora-
zischen Oden werden mit zur Kenntniss der lyrischen, so wie der Terenz
mit zur Kenntniss der schwereren dramatischen Versmaasse benutzt. Anstatt
des Terenz kann auch zuweilen ein Plautinisches Stück gelesen werden.
Von prosaischen Schriftstellern werden Ciceros Hauptwerk, die Bücher
„de oratore“, und zur einleitenden Bekanntschaft mit der alten Philosophie
und dem lateinischen Ausdruck philosophischer Begriffe, die “quaestiones
tusculanae“ und die Bücher „de finibus bonorum et malorum“ nebst den
Büchern „de offciis“ abwechselnd gelesen. Ist eine gründliche Lektüre
des Livius und Cicero in Bezug sowohl auf Sprachen, als auf Geschichte
| [71] vorausgegangen, so kann Tacitus den Beschluss machen und wohlvorbe-
reiteten Jünglingen in den Annalen, welche chrestomathisch, aber in histo-
rischer Ordnung zu lesen sind, ein Muster grosser historischer Kompo-
sitionen aufstellen. Zur nähern Vorbereitung auf ihn in Ansehung der
Sprache kann Sallustius dienen. Andere Dichter und Prosaiker werden
der häuslichen Lesung empfohlen, und jene, z. B. Silius Italicus, zur Um-
setzung in ein andres Metrum oder in Prosa benutzt. So ist es auch nicht
nöthig, dass von den in der Schule behandelten Auktoren alles ununter-
brochen daselbst gelesen werde. Der Beurtheilung der Lehrer muss es
überlassen bleiben, an welchen Stellen sie in der Schule Beispiele geben
wollen, wie man jeden Auktor lesen müsse, und welche sie an die häus-
liche Lektüre zu verweisen zweckmässig finden. Die letztere wird aber
immer unter Kontrolle der Lehrer stehen müssen. Zur Bekanntschaft mit
der römischen Litteratur werden die Einleitungen und der Inhalt der Styl-
übungen, dieser auch zur Bekanntschaft mit der griechischen Litteratur
benutzt.