Projektbeschreibung
Die Wissenschaftliche Ausgabe der Werke und Briefe Wilhelm Bölsches gilt einem Schriftsteller und Literaten, der nach anfänglichen Versuchen, sich mit Erzählungen und Romanen in der Welt der Bücher und Leser einen Namen zu machen, im reiferen Alter zum erfolgreich publizierenden Literaten avancierte, dessen Ziel es war, die Ansichten und Einsichten, die Meinungen und Glaubenspostulate der neuen modernen Naturwissenschaft und die »Mysterien der Universumspracht« in sprachlich elegante, klar formulierte und ›sachlich richtige‹ Texte umzusetzen, die einer breiten Leserschaft die neuen Erkenntnisse verständlich vermittelten. Ernst Haeckel (1834–1919), einer der führenden biologistisch orientierten Philosophen, lobte seinen Freund Bölsche schon am 28. Oktober 1898 nach der Lektüre des »Liebeslebens in der Natur« selbstlos: »Für Ihr ästhetisch-biologisches Buch über die Liebe in der Natur sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank! Ich habe dasselbe sofort mit größtem Interesse durchgelesen, da ich selbst vor Jahren den Plan hatte, etwas Ähnliches zu schreiben. Sie haben es aber viel besser gemacht als ich gekonnt hätte, besonders hinsichtlich der leichten und schönen künstlerischen Form.«
Der Erfolg von Bölsches populär-naturwissenschaftlichen Schriften war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik so groß, dass Kurt Tucholsky noch 1928 Bölsches Schriften als Grundbestandteil einer Hausbibliothek des Bildungsbürgertums ironisch registrierte: »Heyse, Schiller, Goethe, Bölsche, Thomas Mann, ein altes Poesiealbum...«
Bölsches Schriften gehören seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Bestand der deutschen Literatur, und zwar nicht nur wegen ihrer populär-wissenschaftlichen Vermittlungsrolle, sondern vor allem auch wegen ihrer herausragenden Sprachqualität. Naturkundliche Phänomene sind selten so einsichtig formuliert an interessierte Leserkreise gekommen. In der Geschichte der deutschen Prosa seiner Zeit dürfte Bölsche eine bevorzugte Stellung einnehmen.
Darüber hinaus war Bölsche dem Berliner Naturalismus aufs engste verbunden. Seine programmatische Schrift »Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie« (1887) bildet eine wichtige Grundlage der Ästhetik der naturalistischen Avantgarde in Deutschland. Mit den Vertretern des »Jüngsten Deutschland« war er vielfältig literarisch und teilweise in beständiger Freundschaft verbunden; dazu gehörten u. a. Bruno Wille, Heinrich und Julius Hart, Richard Dehmel, John Henry Mackay, Lou Andreas-Salomé und Paul Scheerbart. Die Freundschaft mit den Brüdern Carl und Gerhart Hauptmann und deren Familien begann 1887 und währte lebenslang. Als Bölsche 1890 in Friedrichshagen bei Berlin festen Wohnsitz nahm, wurde sein Haus zum Mittelpunkt des sogen. Friedrichshagener Kreises der jungen, dem Naturalismus zugewandten Generation der Literaten, Künstler und Schriftsteller. Von Friedrichshagen aus redigierte er auch einige Jahre lang die damals führende Zeitschrift der neuen Bewegung, die »Freie Bühne«, die Samuel Fischer verlegte.
Bei einem privat bedingten längeren Aufenthalt in Zürich (1893/94) fand Bölsche seine literarische Richtung endgültig als Popularisator kultur- und naturwissenschaftlicher Phänomene, beginnend mit seinen Arbeiten zur »Entwickelungsgeschichte der Natur«. Man muss bei Bölsche berücksichtigen, dass er kein akademisches Studium in den in den intellektuellen Vordergrund drängenden Naturwissenschaften absolviert hatte.
Bölsches sehr persönlicher geistiger Entwicklungsgang prädestinierte ihn aber geradezu, sich als stilistisch qualifizierter Schriftsteller zu etablieren. Er war am 2. Januar 1861 als Sohn des Journalisten Carl Bölsche (1813–1891) geboren worden; der Vater war jahrzehntelang Redakteur der Kölnischen Zeitung.
Bereits als begabter Gymnasiast schrieb Bölsche naturkundliche Essays für Zeitschriften wie »Die Gefiederte Welt« und »Isis«. Sein Studium der klassischen Philologie in Bonn schloss er nicht mit einem Examen ab, sondern begab sich im Einvernehmen mit seinem Vater auf Studienreisen nach Rom und Florenz sowie später nach Paris. In diese Jahre fallen die ersten Versuche, sich mit Erzählungen und Romanen freizuschreiben, woraus sich dann die ernsthafte Perspektive entwickelte, die Karriere eines Schriftstellers einzuschlagen. Mit diesem Ziel ging Bölsche, versehen mit einem regelmäßigen Scheck aus dem Elternhaus, im Herbst 1886 nach Berlin, wo sich gerade die ›Moderne‹ zu etablieren begann. Über Rudolf Lenz und Bruno Wille kam er in Kontakt zum literarischen Verein »Durch!«, dem er sozusagen als Entree seine Thesen zu den »Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie« vortragen konnte. 1890 gründete er mit Bruno Wille die »Freie Volksbühne«, die als Arbeitertheater gedacht war und bis heute noch existiert. Nebenher betrieb er eine umfangreiche Vortragstätigkeit im Rahmen literarischer und kultureller Arbeiterbildung, was im weiteren eine reiche Publikationstätigkeit zeitigte, die ganz in seinem Sinne war, weiten Kreisen Informationen über aktuelle kulturelle und wissenschaftliche Probleme zu vermitteln.
An seinen überlieferten Schriften läßt sich ein eigentümliches schriftstellerisches Verfahren feststellen: Die journalistischen Erst-Veröffentlichungen werden später in starker Umarbeitung in Sammelbänden erneut vorgelegt, so dass kaum ein Text aus Bölsches Feder keine vielschichtige Überlieferungsgeschichte hat. Die Überlieferung seines Bestsellers »Das Liebesleben in der Natur« stellt demzufolge die Philologen vor nicht leicht lösbare Editionsprobleme. Gleichwohl lassen die Veränderungen erkennen, dass Bölsche darauf bedacht war, seine weitergereichten Informationen stetig auf dem modernsten Stand der Wissenschaft zu halten: beachtenswert: ein ständiger »Informationsvorgang in progress«. Die Editionstechnik der Bölsche-Ausgabe wird darauf in ihren Apparaten Rücksicht zu nehmen haben.
Die Freundschaft mit den Brüdern Hauptmann brachte Bölsche ins Riesengebirge, nach Schreiberhau, wo er seit 1901 regelmäßig den Sommer verbrachte. Von 1918 an wurde Schreiberhau zu seinem ständigen Wohnsitz. Dort widmete er sich weiterhin seiner literarischen Produktion und seiner umfangreichen brieflichen Kommunikation bis in hohe Alter. Am 31. August 1939 ist Wilhelm Bölsche in Schreiberhau verstorben.
Sein schriftstellerisches Lebenswerk ist umfangreich; gegen Ende seines Lebens hatte er fast fünfzig Bücher und weit mehr als siebenhundert Artikel in Zeitschriften und Zeitungen publiziert und trat noch unzählige Male als geschätzter Vortragender auf.
Bölsches nachweisbarer Erfolg lässt erkennen, dass er zu seiner Zeit – trotz aller nicht ausgebliebenen Kritik – von beachtlichem Einfluß auf Mentalität und Wissen weitester Leserkreise gewesen sein dürfte.
Niemand geringeres als Berta von Suttner bezeugt in ihren »Lebenserinnerungen« dieses Interesse an Bölsches Schriften:
Damals hatten wir Bölsche entdeckt. Der führte uns in die Hallen der Naturwunder, weihte uns ein in die Mysterien der Universumspracht. Oft geschah es, wenn das Gelesene uns eine neue Offenbarung brachte, daß wir im Lesen innehielten, um einen stummen Händedruck zu tauschen. (S. 351 f.)
Und Gerhart Hauptmann fasste anlässlich eines Festaktes zu Bölsches 70. Geburtstag am 2. Januar 1931 die Lebensleistung des Jubilars und Freundes in folgenden Worten zusammen:
Siebzig Jahre, zum größten Teil der Arbeit gewidmet,liegen hinter dir. Es war Arbeit für die deutsche und die Menschheitskultur. Scheinlos, treu, ausdauernd hast du in diesem Leben gedient und den Dank deines Volkes in deinem Wirken gefunden. Als ein wahrer, freier und echter Volkslehrer hast du Hunderttausende, ja Millionen von Deutschen, Männer, Frauen aller Stände, jung und alt,belehrt und ihnen das Walten Gottes in der Natur und der Natur in Gott erschlossen. Du hast ihnen die Arbeit ihrer Dichter, Denker und Forscher immer wieder vor geführt und dir so von dieser wie jener Seite allgemeinen Dank verdient. Das Interesse für die Natur und für die Wissenschaft von der Natur ist, zumal in Deutschland, zu einem sehr erheblichen Teil allein durch dich geweckt, gefördert und lebendig erhalten worden.
Was sich in deinem Wesen manifestiert, ist allerdings weniger der Geist der platonischen Akademie und ihrer deutschen Ableger als etwas vom Geist des Sokrates, der gleichsam spielend lehrte, wo er gerade ging und stand, auf Gassen, Märkten und Turnplätzen, unter einer schönen Platane gelegentlich, aber wohl kaum je in einem akademischen Auditorium. Und wer dich kennt, deine Schriften kennt, der kennt auch deine sokratische Ironie, eine Ironie, verbunden mit Güte, die du, mild, verstehend und verzeihend, auch der Menschenwelt entgegenbringst.
Und, lieber Freund, in deinen Adern rollt Dichterblut. Wie bei Goethe und Ernst Haeckel, denen sich dein wahlverwandtes Wesen innig verbunden hat, hat der Forscher in dir den Dichter nicht unterdrückt, und diese Verbindung von Dichten und Forschen begründet dein naturhaftes Sehertum...
Das Werk und seine noch zu definierende Wirkung auf seine Zeitgenossen in Kaiserreich und Weimarer Republik sind letztlich die Gründe, Wilhelm Bölsche der scheinbaren Vergessenheit unserer Tage zu entreißen und seine Position in der Geschichte der Literatur seiner Zeit durch eine Edition zu dokumentieren.