Ulrike Mühlschlegel
Ulrike Mühlschlegel: Bibliotheksreferentin am Ibero–Amerikanischen Institut in Berlin
In der modernen Informationsgesellschaft ist die Verwaltung von Daten und die Vermittlung von Information eine zentrale und stetig wachsende Aufgabe. Die Arbeit in Bibliotheken, Dokumentationszentren und Archiven, an der Schnittstelle von Technik, Mensch und Kultur bietet dabei vielfältige und abwechslungsreiche Jobs. Flexible Arbeitszeitmodelle, Räume für eigene Schwerpunktsetzung und gute Aufstiegsmöglichkeiten machen diesen Bereich – jenseits aller Klischees über Bibliothekare und Bibliothekarinnen – zu einem attraktiven Berufsfeld. Als Voraussetzungen sollte man unter anderem die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und kundenorientiertes Denken mitbringen. Wie kommt man auf eine solche Stelle? Ulrike Mühlschlegel, Bibliotheksreferentin am Ibero–Amerikanischen Institut in Berlin, erzählt, wie ihr Werdegang verlief.
"Gärtnerin" war meine erste Antwort, wenn die Erwachsenen fragten, was ich denn mal werden wollte. Damals war ich sechs Jahre alt und in den kommenden Jahren veränderte sich mein Berufswunsch noch mehrmals. Pferde waren nie meine große Leidenschaft, wohl aber alle Meerestiere und überhaupt Schwimmen und Wasser. Folgerichtig wollte ich "irgendetwas mit Delphinen" werden, was sich dann zunächst zum Studiumswunsch Meeresbiologie und später zu Ozeanographie wandelte. In der Oberstufe des mit Leistungskursen nicht sehr reich ausgestatteten Gymnasiums einer Kleinstadt wählte ich Deutsch und Französisch und in Folge lautete mein Berufswunsch Lehrerin für eben diese Fächer. Lehrerin – das war auch fast der einzige Beruf, dessen Alltag ich (zumindest aus der Perspektive der Schülerin) kannte. Und was ich da sah, gefiel mir nicht. Als sich das Abitur näherte, war ich immer noch unsicher, ob ich mich denn zur Lehrerin eignete und weiterhin jeden Tag in die Schule gehen wollte. Die Berufsberatung beim Arbeitsamt war mit akademischen Berufen überfordert und verwies mich an die Studien– und Berufsberatung der nächstliegenden Universität. Dort bekam ich einen Stapel Papiere – Studienordnung, Prüfungsordnung, Fächerkanon – in die Hand gedrückt, die Frage nach Berufsmöglichkeiten jenseits des Lehramts blieb unbeantwortet. Gespräche im Bekanntenkreis endeten meist mit Vorschlägen wie "Bei deinem Notendurchschnitt musst du unbedingt Medizin studieren" oder "Jura ist immer eine gute Wahl", was aber meinen Interessen und Berufsvorstellungen wenig entgegenkam. Also entschied ich mich für ein Jahr Aufschub und bewarb mich am Leibniz–Kolleg in Tübingen, einem einjährigen propädeutischen Kolleg.
52 Abiturienten wohnten hier in kleinen Zweierzimmern zusammen, teilten sich Gemeinschaftsduschen und die alte Küche. Man wählte seinen Stundenplan im Kurssystem – Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, dazu Sprachen und musische Kurse – , erhielt Einführungen in das wissenschaftliche Arbeiten, in Methodenlehre und in transdisziplinäre Themen. Für mich war es ein Tor in die Welt der Wissenschaft. Referate halten, Hausarbeiten schreiben, die Universitätsbibliothek benutzen, Literatur recherchieren und auswerten – das waren alles neue Techniken, mit denen ich in der Schulzeit nicht in Kontakt gekommen war. Dazu konnten wir bereits in die Fächer an der Universität hineinschnuppern und Vorlesungen besuchen. Da ich mich immer noch für ein Studium im Bereich der Romanistik interessierte, schrieb ich mich außerdem für einen Latein–Kurs ein, um das Latinum nachzuholen. Am Ende des Jahres war meine Begeisterung für die Wissenschaft ungebrochen. Als Lehrerin vor einer Klasse stehend sah ich mich allerdings immer weniger und so beschloss ich, ein Magisterstudium zu wagen: zu wagen, weil mir keiner sagen konnte, zu welchem Beruf das führen könnte, weil dem Magisterabschluss allgemein misstraut wurde und Spötter den Titel M.A. mit "meist arbeitslos" auflösten. Blieb die Frage der Fächer: Romanistik sollte es sein, und jetzt, da ich nicht mehr an die Schulfächer gebunden war, das Hauptfach Spanisch. Durch einen Aufenthalt in Lateinamerika beherrschte ich die Sprache und bereits als 12 –jährige hatte ich mich begeistert durch die Bände lateinamerikanischer Erzähler in der Bibliothek meines Vaters gelesen. Aber was dazu? Französisch war an allen Universitäten überlaufen, also entschied ich mich für Portugiesisch. Als drittes Fach wollte ich "etwas Reales" als Ausgleich zur schönen Literatur und wählte Politikwissenschaft, vielleicht vor dem Hintergrund meiner stürmischen Begeisterung für politische Debatten, vielleicht wegen eines vagen Berufsziels "Internationale Organisationen". Und die Universität?
Tübingen kämpfte mit den Problemen einer kleinen, alten Universitätsstadt: zu wenig Raum, überfüllte Seminare, hoffnungsloser Wohnungsmarkt. Also entschied ich mich nach einem Besuch spontan für Trier, eine ebenfalls kleine, aber moderne Universität, 1972 (wieder–) gegründet. Im Nachhinein erwies sich dies als Glücksfall: Die Seminargruppen waren überschaubar, persönliche Kontakte mit den Dozenten leicht zu knüpfen, es gab keine überfüllten Sprechstunden mit langen Wartelisten. Den Studierenden standen gut ausgestattete Computerräume zur Verfügung, die zentrale Universitätsbibliothek war durch Investitionsmittel und Anschubfinanzierungen besser gestellt als manch andere. Ein zentraler Campus beherbergte alle Fachbereiche und Verwaltungseinheiten und Pragmatismus ersetzte die anderswo oft verhärteten Fronten der Hochschulpolitik. Bei den Studienfächern stellte sich meine Wahl als weniger geglückt heraus: Politikwissenschaft, in Trier auch mit Prüfungsleistungen in den Bereichen Soziologie und VWL verknüpft, ließ sich auf dem niedrigen Niveau eines zweiten Nebenfach nicht sinnvoll studieren. Trotzdem entschloss ich mich, das Studium so weiterzuführen, um keine Zeit durch einen Nebenfachwechsel zu verlieren. Dies gehörte zu den Grundsätzen, die uns vermeintlich für die Arbeitslosigkeit studierenden Magisterkandidaten häufig wiederholt wurden: Wenn wir uns später Chancen eröffnen wollten, sollten wir während des Studiums viele Praktika absolvieren, unbedingt Auslandsaufenthalte einbauen, aber dabei so rasch wie möglich studieren, um möglichst jung auf den Arbeitsmarkt zu kommen. Ein Auslandsaufenhalt erschien mir damals wenig attraktiv: Ich hatte mich in Trier eingelebt, hatte mehrere Hilfskraftsstellen an der Universität und einen Nebenjob als Lehrkraft an einer Sprachschule. Auch für Praktika blieb da wenig Zeit. Also ging ich zweimal mit Sommerkursstipendien an andere Universitäten, nach Lissabon und Santiago de Compostela. 1995 legte ich nach 10 Semestern die Magisterprüfung ab.
Was danach kommen sollte, war mir erst in Grundzügen klar: Das Interesse an der Wissenschaft (inzwischen auch etwas konkreter: Sprachwissenschaft) hielt weiterhin an und so sollte sich eine Promotion anschließen. Auf Tagungen und Kongressen hatte ich junge Wissenschaftlerinnen kennengelernt, mich über Berufsperspektiven an den Universitäten ausgetauscht und konnte mir prinzipiell eine akademische Laufbahn vorstellen. Während ich über Finanzierung und mögliche Stipendien nachdachte, wurde mir eine halbe Stelle an der Universität Göttingen angeboten. Die Konstellation, die Hälfte der Woche in der Redaktion wissenschaftlicher Publikationen zu arbeiten und in der verbleibenden Zeit meine Doktorarbeit zu schreiben, erschien mir attraktiv und so sagte ich zu. In den kommenden Jahren lernte ich ausführlich die Strukturen einer Traditionsuniversität kennen, mit Instituten und Fakultäten, Gremien und Ausschüssen, Lehrstühlen und Hierarchien. Ich konnte erste Lehrveranstaltungen halten und stellte fest, wie erschreckend wenig der akademische Nachwuchs auf die didaktisch–pädagogischen Aufgaben vorbereitet wurde. Ich schrieb Aufsätze und lernte Schlagwörter wie "publish or perish" und "Zitierkartell". Es war eine Zeit der Desillusionierung, in der mir die Freude am wissenschaftlichen Arbeiten weitgehend verloren ging.
Heute kann ich sagen, dass es nicht die Wissenschaft war, die mich abstieß, sondern der Wissenschaftsbetrieb, wie ich ihn kennenlernte. In der Endphase der Dissertation war mir klar, dass ich nicht habilitieren, nicht weitere fünf bis sieben Jahre einer langen schriftlichen Arbeit widmen wollte. Die Stellensituation im akademischen Mittelbau bot nur trübe Aussichten. An dieser Stelle kam mir der Zufall zur Hilfe: eine Freundin entdeckte an einer Pinnwand eine Ausschreibung und reichte sie mir mit den Worten "Das ist doch was für Dich, bewirb Dich da mal". In den nächsten zwei Wochen überstürzten sich die Dinge: Bewerbungsschreiben, Auswahlverfahren und dann kam schon die Zusage. Meine Dissertation war noch nicht ganz abgeschlossen, das Rigorosum stand noch bevor und ich war schon mittendrin im "Referendariat für den höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken". Das Referendariat, zu ähnlichen Bedingungen wie das Referendariat für Juristen oder Lehramtskandidaten, gliedert sich in einen praktischen Teil – ein Jahr an einer oder mehreren Bibliotheken – und einen theoretischen Teil, der aus einer einjährigen Ausbildung an einer der deutschen Bibliotheksschulen besteht. In meinem Fall absolvierte ich die Praxis am Ibero–Amerikanischen Institut in Berlin und die Theorie an der Fachhochschule Köln. Im praktischen Jahr, währenddessen ich an den Wochenenden noch meine Dissertation abschloss und danach das Rigorosum ablegte, durchlief ich alle Abteilungen der Bibliothek vom Kellermagazin bis in die Direktionsetage und lernte die bibliothekarischen Arbeitstechniken kennen. Dabei habe ich selbständig kleinere Projekte durchführen und in allen Bereichen auch tatkräftig mit anpacken können. Der theoretische Teil der Ausbildung, in dem ich mit 24 anderen Referendaren und Referendarinnen aus verschiedenen Bundesländern in einem Kurs zusammentraf, war vor allem durch ungeheure Stoffmengen, eine große Praxisferne und rigide Prüfungen gekennzeichnet. Nach der zweijährigen Ausbildung bewarb ich mich an verschiedenen deutschen Bibliotheken, kehrte aber letztlich an das Ibero–Amerikanische Institut zurück.
Als Fachreferentin an dieser Bibliothek kann ich meine Studieninhalte, die Sprachen und die Bibliothekspraxis kombinieren. Dazu bietet mir das Institut die Möglichkeit, weiterhin wissenschaftlich tätig zu sein und mich im kulturellen Sektor zu engagieren. Das Ibero–Amerikanische Institut ist Europas größte Spezialbibliothek zu Spanien, Portugal und Lateinamerika. Die Bibliothek umfasst ca. 830.000 Bücher, 25.000 Zeitschriftentitel und große Sondersammlungen wie die Phonothek, die Landkartensammlung oder das Bildarchiv. Dazu kommen eine universitätsunabhängige, interdisziplinäre Wissenschaftsabteilung mit vielfältiger Forschungs– und Publikationsaktivität und das Öffentlichkeitsreferat mit zahlreichen Kulturveranstaltungen in Kooperation mit ibero–amerikanischen Partnerorganisationen. "Wie sieht die tägliche Arbeit in der Bibliothek aus?", fragen mich Praktikanten häufig. Auf diese Frage kann ich nicht direkt antworten, denn – und das macht für mich die Faszination dieses Berufes und dieses Arbeitsplatzes aus – den normalen, alltäglichen Ablauf gibt es nicht. Unser Arbeitsbereich ist in Länderreferate eingeteilt und so betreue ich aktuell Spanien, Mexiko und die Karibik. Meine Kollegen und ich halten den Kontakt zu den Buchhändlern in Lateinamerika, Spanien und Portugal, prüfen Angebotslisten, wählen aus, gestalten die Lieferverträge. Wir sichten die eingehenden Bücher und nachdem diese katalogisiert wurden, erschließen wir sie nach inhaltlichen Kriterien, d.h. wir vergeben die Sachschlagwörter für den elektronischen Katalog. Dazu kommt die Beratung von Benutzern, die konkrete Themen und Fragestellungen zum ibero–amerikanischen Bereich bearbeiten. Neben dieser Länderreferatsarbeit stehen konzeptionelle Arbeiten und Personalmanagement: In unserer von den Personalstellen her kleinen Bibliothek haben alle Referenten und Referentinnen auch Leitungsfunktionen. Sowohl der äußerliche Wandel der Bibliothek hin zu einem Dienstleistungsbetrieb und zu neuen Medien als auch der interne Umbau von Kommunikations–und Betriebsstrukturen ist eine große Herausforderung. Durch die Verknüpfung von Bibliothek, Wissenschaft und Kultur im Ibero–Amerikanischen Institut können wir zusätzlich kleinere Forschungsprojekte initiieren oder in Zusammenarbeit mit Kollegen Autorenlesungen, Kolloquien, Filmabende oder Ausstellungen organisieren. Ein Zusammenspiel von Absicht und Zufall – so würde ich meinen Werdegang charakterisieren.
Trotz aller Unkenrufe hielt ich an meiner Studienfachwahl fest und bin heute überzeugt davon, dass es nicht die sich ohnehin rasch abwechselnden Modestudiengänge sein müssen, die zum Erfolg führen. Informatik, Medizin, BWL oder Jura zu studieren, ohne dass es den eigenen Interessen und Begabungen entspricht, kann zur Qual werden und führt im besten Fall zu durchschnittlichen Studienleistungen. Mit eigenem Engagement und Zusatzqualifikationen kann man sich auch mit einem Studium der Tibetologie oder Altaistik Berufsfelder jenseits der universitären Laufbahn erschließen. Ohnehin wird in vielen Bereichen heute ein Hochschulstudium lediglich als Grundlage gesehen, das vor allem die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten und andere kulturelle Techniken vermittelt, die Berufsqualifikation erfolgt danach in spezifischen Ausbildungsgängen.
Kontakt
Dr. Ulrike Mühlschlegel
Ibero–Amerikanisches Institut PK
Potsdamer Str. 37
D–10785 Berlin
Tel.: 030/ 266 2500
E-Mail: muehlschlegel@iai.spk-berlin.de
Web: www.iai.spk-berlin.de/wiss/muehlschlegel/vorstellungd.htm