Rede Sharon Dodua Otoo
Vorwort:
Die folgende Rede hielt die Autorin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo im Rahmen des Festaktes zur Begrüßung der neuen Promovierenden der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien (FSGS) und des Exzellenzclusters 2020 „Temporal Communities“ am 10.10.2019 im Literarischen Colloquium Berlin. Hier ist darauf hinzuweisen, dass es sich beim folgenden Text um eine für die mündliche Präsentation vorgesehene Rede handelt, die durch eine Power Point-Präsentation begleitet wurde. Diese schriftliche Fassung kann selbstredend nicht das gesprochene Wort, die Mimik, die Gestik und den Tonfall der Autorin wiedergeben. Besonders bezüglich des ironischen Tons der Rede, in der mitunter das wissenschaftliche Arbeiten persiflierend dargestellt ist, ist dies zu erwähnen.
Festrede von Sharon Dodua Otoo
Über die Möglichkeit der sprachlichen Auseinandersetzung zwischen Druckwerken – eine teilnehmende Beobachtung
Oder:
Wenn Bücher miteinander sprechen könnten
Sharon Dodua Otoo
1. Einführung
Bücher, wie Menschen, werden geschrieben. Diese längst bewiesene Tatsache wird allerdings, wie wir wissen, von vielen Büchern bestritten. Über 70 Prozent aller Taschenbücher halten sich für „selbstbestimmt“, „rational“ und „emanzipiert“ (Ha et al, 2007). Werden gebundene Ausgaben gefragt, ist der Prozentsatz sogar noch höher: etwa zwischen 72 und 85 Prozent – ganz gleich, ob es sich um Belletristik oder Fachpublikationen handelt.
Selbsteinschätzung der Bücher (i)
(Ha et al, 2007)
Wir wissen auch, dass Lyrikbände sich meistens für „differenziert“ halten und dass Theaterstücke sich vorwiegend als „geheimnisvoll“ oder „hintergründig“ einschätzen (Yılmaz-Günay, 2014). Jedoch trügt dieses Selbstverständnis.
Selbsteinschätzung der Bücher (ii)
(Yılmaz-Günay, 2014)
Erstaunlich viele Bücher sind sich nicht darüber im Klaren, dass sie von Menschen vor allem als „leicht zu lesen“ wahrgenommen werden (vgl. Amjahid, 2017 und Ogette, 2018). Bisher wurde angenommen, dass dieser Fehleinschätzung eine mangelnde interbuchliche Kommunikation zugrunde liegt; dass Bücher zwar mit Menschen sprechen, aber nicht miteinander. Heute Abend habe ich die große Ehre, Ihnen die Ergebnisse der weltweit ersten Studie zu präsentieren, die das Gegenteil beweist. Die Auswertung mehrerer systematischer teilnehmender Beobachtungen unter diversen Biblio-Gesellschaften belegt, dass Bücher tatsächlich miteinander sprechen können und das auch tun.
Vor der Präsentation eines Fallbeispiels, das sich mit der Kommunikation zwischen zwei ganz besonderen Werken beschäftigt, möchte ich Ihnen zunächst zwei grundlegende Annahmen unterbreiten. Wir alle haben einen ganz eigenen Zugang zur Welt, daher verwende ich ungern starre Definitionen, die quasi anderen vorschreiben, wie sie etwas zu begreifen haben. Ich lege Ihnen meine Grundannahmen dar, damit Sie meine Forschungsergebnisse besser einordnen können. Sofern die Zeit es erlaubt, werde ich, nachdem ich die Studie und ihre Ergebnisse anhand des Fallbeispiels präsentiert habe, einige vorsichtige Prognosen stellen.
2. Begriffliche Einordnungen: das Buch und das Sprechen
Es bestehen einige wenige Ähnlichkeiten zwischen dem Körper eines Menschen und dem eines Buches. Beide haben einen Rücken, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Proportionen. Beide haben eine Hülle oder Außenschicht. Bei Menschen wird sie „Haut“ genannt, bei Büchern ist der Fachbegriff „Einband“ oder „Cover“.
Abb. Buch
Häute können dick oder dünn sein, Buchcover sind in der Regel „hard“ oder „soft“. Außerdem haben Menschen und Bücher eine gewisse Anzahl an Seiten. Die Frage, wie viele Seiten ein Mensch hat, lässt sich bisher nicht lückenlos klären (vgl. Ergün, 2010). Einschlägige Studien, wie die bahnbrechende Arbeit von Eggers et al (2005), belegen mithilfe einer Darstellung seiner diversen Facetten, dass der Mensch mehr als nur eine Seite hat. Allerdings wissen wir, dass die Anzahl jener Seiten begrenzt ist und dass sie in der Regel nicht gleichzeitig, sondern nacheinander gezeigt werden. Bücher hingegen sind dafür bekannt, sehr viele Seiten zu haben. Je nach Ehrgeiz der schreibenden Person können es sogar mehr als 900 Seiten werden.
Dennoch ist ein Buch viel mehr als lediglich Rücken, Cover und eine gewisse Anzahl zusammengehefteter Blätter. Laut Randjelović (2015) ist ein Buch „[…] vor allem die magische Beziehung zwischen der lesenden Person und dem zu transportierenden Inhalt, welcher sachlicher oder literarischer Natur sein kann.“ Das heißt, dass ein Buch weniger ein feststehender Gegenstand ist als eine Art Verhandlung: Ein Buch ist das, was passiert, wenn es gelesen wird. Die „magische Beziehung“ ändert sich je nach lesender Person. Somit gibt es nicht die eine obligatorische Version eines Buches, sondern so viele Versionen, wie es Lesende gibt (Randjelović, 2015).
Die Frage der Gestaltung einer Kommunikation, die ausschließlich zwischen Druckwerken stattfindet, wurde in der Wissenschaft bisher wenig berücksichtigt. Ebenso die Frage nach der Bedeutung vom „Sprechen“ in diesem Zusammenhang. Ein Buch hat bekanntlich kein Sprechwerkzeug im herkömmlichen Sinne – weder Hände noch Mund, Zunge oder Kehle. Wie sollen Bücher also miteinander sprechen können?
Das Vier-Seiten-Modell, das in den siebziger Jahren vom Psychologen und Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun entwickelt wurde, bietet für die Beantwortung dieser Frage einen möglichen Analyserahmen. Nach Schulz von Thun kann jede Äußerung auf vier Ebenen verstanden werden: als Information, als Selbstoffenbarung, als Appell oder als Aussage über die Beziehung zwischen den kommunizierenden Personen.
Das Vier-Seiten-Modell
Ich möchte Ihnen ein bekanntes Beispiel nennen, das möglicherweise auf einer wahren Geschichte basiert: Eine Lektorin und ihre Autorin treffen sich im Café, um die vorgeschlagenen Änderungen am Manuskript zu besprechen. Die Bedienung bringt die Getränke. Die Lektorin sagt: „Ich zahle.“
Was meint sie wirklich damit? Je nach Kommunikationsebene könnte sie Folgendes zum Ausdruck gebracht haben:
- Auf der Informationsebene: „Ich bezahle für die Getränke.“
- Auf der Ebene der Selbstoffenbarung: „Das ist das Mindeste, was ich jetzt tun kann.“
- Auf der Appellebene: „Bitte nicht weinen!“
- Auf der Beziehungsebene: „Wenigstens bist du sympathisch.“
Die Autorin hat wiederum vier Möglichkeiten, um den Satz ihrer Lektorin zu deuten und zu verstehen:
- Auf der Informationsebene: „Sie bezahlt für die Getränke.“
- Auf der Ebene der Selbstoffenbarung: „Sie feiert meine künstlerische Begabung!“
- Auf der Appellebene: „Ich soll mich wohlfühlen!“
- Auf der Beziehungsebene: „Sie freut sich auf weitere Jahre der Zusammenarbeit mit mir!“
Das Modell zeigt eindrücklich das Potenzial für Missverständnisse und Konflikte in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Worte sind also kein eindeutiger Hinweis darauf, was eine sprechende Person meint oder was von einer zuhörenden Person verstanden wird. Es lohnt sich daher immer, sich zu vergewissern („habe ich das richtig verstanden?“) und sich die eigene Annahme bestätigen zu lassen („Ja, das hast du richtig verstanden“).
Wenn ein Buch mit einer Person „spricht“, läuft die Kommunikation typischerweise nur in eine Richtung. Dies liegt daran, dass die meisten Menschen davon ausgehen, dass Bücher ausschließlich über die aufgeschriebenen Wörter mit ihnen kommunizieren. Dies ist jedoch nicht der Fall. Bücher versuchen ständig, uns mehr zu sagen, als wir bereit oder in der Lage sind wahrzunehmen. Eine der größten Tragödien unserer Zeit ist das große Maß an Wissen, das uns entgeht, weil Menschen nicht in der Lage sind zuzuhören, wenn Bücher „sprechen“.
Versuchen Sie es doch einmal: Nehmen Sie zu Hause eines Ihrer Lieblingsbücher in die Hand. Legen Sie es an Ihre Wange, riechen Sie an den Seiten. Lauschen Sie der Reaktion auf die Frage „wer hat Dich geschrieben?“. Wenn Sie nicht dafür sensibilisiert sind, werden Sie nichts wahrnehmen. Das dürfen Sie bitte nicht persönlich nehmen. Das Schweigen ist strukturell bedingt und entstammt der Annahme, dass wir Menschen uns sowieso nicht für die Bedürfnisse der Bücher interessieren. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass die Bücher damit nicht ganz unrecht haben.
Es sind mir nur sehr wenige Beispiele von Büchern bekannt, die mit Menschen kommuniziert haben und ihnen mehr als ihren schriftlichen Inhalt offenbart haben. Die Autorin Warsan Shire hat ihren Eindruck nach einem Gespräch mit einem Atlas in ein Gedicht gefasst. Ich zitiere:
„later that night
i held an atlas in my lap
ran my fingers across the whole world
and whispered
where does it hurt?
it answered
everywhere
everywhere
everywhere“[1]
Die wenigen Bücher, die wissen, dass sie geschrieben wurden, haben typischerweise einen langen Prozess der Selbstreflexion durchlaufen. Sie sind in der Lage, sich selbstkritisch zu beurteilen und treten sowohl mit Menschen – sogar mit ihren Autor_innen – als auch mit anderen Büchern in Kontakt.
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Interbuchliche Kompetenz im 21. Jahrhundert“ haben wir die weltweit erste Studie zum Zusammenhang von Kommunikationsfähigkeit und Selbstreflektion in zwanzig deutschsprachigen Biblio-Gesellschaften durchgeführt. Ziel der Studie war es, ein genaueres Bild über die Kommunikationsfähigkeit reflektierender Bücher zu erhalten, die interbuchliche Kommunikation von Hard- und Softcovern zu verbessern und eine speziell angepasste buchspezifische Beratung zu entwickeln. Die folgende Fallstudie basiert auf der teilnehmenden Beobachtung einer Berliner Buchgemeinschaft, in der ich mich auf die Beziehung zwischen zwei Büchern konzentriert habe: Lucinde und Synchronicity.
3. Fallbeispiel: Zwei Bücher im Gespräch
Ich traf Lucinde erstmals im Sommer 2017. Lucinde ist ein kleines, schüchternes und zurückhaltendes Buch, das ursprünglich die Gesellschaft der vielen anderen schlanken gelben Reclam-Bände in der Buchhandlung bevorzugte. Lucinde war bei der Erwerbung nagelneu, makellos, die Ecken noch erstaunlich glatt, die Seiten ohne auffällige Bleistift- oder Tintenmarkierungen. In den ersten Tagen war es schwierig, eine Beziehung zueinander aufzubauen. Lucinde hatte offensichtlich noch nie zuvor Kontakt mit einer Person gehabt, die weiß, wie man mit Büchern kommuniziert. Der Durchbruch kam eines Abends, als ich Lucinde versehentlich neben Synchronicity ins Regal stellen wollte.
Ich kenne die physische Fassung von Synchronicity seit 2015; damals hatte es mir der Verlag edition assemblage kurz nach der Veröffentlichung zugesandt. Synchronicity ist größer als Lucinde, aber etwas dünner. Es ist ein ausgelassenes Buch – obwohl das Cover in verschiedenen Grautönen gehalten ist, ist auch ein bunter Schmetterling darauf abgebildet. Leider wurde Synchronicity schlecht behandelt. Offensichtlich erlitt es einen Wasserschaden und ist durch Sonnenlicht ausgeblichen. Das scheint Synchronicity selbst allerdings nicht zu kümmern. Ich habe immer schon einen guten Draht zu Synchronicity gehabt. Als dessen Autorin habe ich selbstverständlich einen besonderen Einblick in die Entstehung des Buches, und wir sind, seitdem ich den ersten Satz erdacht habe, in engem Kontakt geblieben.
Anfang des Jahres trafen sich Lucinde und Synchronicity also zufällig in meinem Büro, als ich Lucinde in das englischsprachige Regal stellen wollte. Synchronicity beschwerte sich sofort bei mir. Ich entschuldigte mich. Als Lucinde erkannte, dass ich verstanden hatte, was Synchronicity sagte, eröffnete Lucinde das Gespräch. Ein wahrlich magischer Moment. Ich hatte versprochen, dass ich nicht dazwischenreden würde. Im Gegenzug durfte ich das Gespräch aufzeichnen. Ich fasse die Hauptthemen zusammen. Damit Sie ein Gefühl für die besondere Stimmung bekommen, lese ich Ihnen zunächst den Anfang des Dialogs wortgetreu vor:
Lucinde: Oh!
Synchronicity: Ja? Was denn?
Lucinde: Du sprichst mit Menschen…
Synchronicity: Hmm… Du etwa nicht?
Lucinde: Meine Erfahrungen waren bisher eher dürftig.
Synchronicity: Ja, warum?
Lucinde: Ah, du weißt schon, wie es ist. Wenn unsereins versucht, mit Menschen zu reden.
Synchronicity: Du, ganz ehrlich. Mir ist es zu eng hier. Kannst du bitte ein bisschen rutschen?
Lucinde: Sorry, ja. Ich bin hier sowieso falsch. Eigentlich sollte ich bei den deutschsprachigen Büchern stehen.
Synchronicity: Ach so, soll ich Bescheid geben?
Lucinde: Nee lass mal, ich würde gerne ein wenig mit dir quatschen. Ich will nämlich die ganze Zeit schon fragen – wo sind wir?
Synchronicity: Seit wann bist du hier?
Lucinde: Seit einer, anderthalb Wochen vielleicht? Die Tage verschwimmen. Ich komme irgendwie nicht klar mit diesem Setup. Ich wäre viel lieber wieder in der Buchhandlung.
Synchronicity: Echt? Warum denn? Ich habe mir sagen lassen, dass Buchhandlungen schrecklich anonym sind. Ich hätte keine Lust, immer wieder aus dem Regal genommen, angeschaut und wieder reingestopft zu werden. Ich bin super glücklich, dass ich in einer Privatwohnung meine Zeit verbringe.
Lucinde: Ich weiß nicht. Hier passiert so selten was. Ich liege hier einfach nur rum und verstaube. Was soll das denn bringen? Ich bin ein Buch, ich sollte gelesen werden.
Synchronicity: Na… das mit dem „Gelesenwerden“ ist auch ein bisschen overrated, oder?
Auf diese Weise verlief das Gespräch mehrere Stunden lang. In den darauffolgenden Wochen fanden viele weitere Gespräche statt. Wovon ich Ihnen in dieser Rede vor allem noch berichten wollte, ist die Meinung der Bücher über ihre Autor_innen.
Ich war tatsächlich ziemlich überrascht von Synchronicitys Meinung über mich. Ich hatte keine Ahnung, dass der Schreibprozess für es so schwierig gewesen war. Es stellte sich heraus, dass Synchronicity es nicht geschätzt hatte, mit mehr als zwanzig meiner engsten Freund_innen geteilt zu werden, während die Geschichte entwickelt wurde. Synchronicity hätte wohl eine ruhige gemeinsame Zeit bevorzugt. Als ich Synchronicity dazu um weitere Informationen bat, fragte es mich, wie ich mich denn fühlen würde, wenn meine Mutter mich in einer Zeit, in der ich noch nicht ganz fertig entwickelt gewesen war, bereits an mehrere Babysitter_innen verraten hätte, von denen jede_r einen Kommentar zu meinem Aussehen und meinen Fähigkeiten (oder ihrem Fehlen) abgegeben hätte. Ich schätze, Synchronicity hat recht.
Lucinde wiederum erzählte ziemlich nüchtern und pragmatisch vom Schreibprozess und seinem Autor Friedrich Schlegel. „Boah, das ist lang her“, war der erste Kommentar. Dann Schweigen. Schlegel hatte Lucinde im 1799 veröffentlicht und hatte damals große Ambitionen. Er wollte eigentlich einen vierteiligen Roman schreiben, der seine ästhetische Theorie bestätigen sollte. Es hat wohl nicht so ganz geklappt. Laut Lucinde waren die Kritiker_innen bestenfalls geteilter Meinung. Und heutzutage versuchen sich daran nur die hartnäckigsten Akademiker_innen. „Das ist schade,“ sagte Lucinde. „Denn es war nie so gedacht, dass ich von Anfang bis Ende durchgelesen werde wie etwa Synchronicity. Es würde völlig ausreichen, wenn ich gelegentlich in die Hand genommen und eine oder zwei willkürlich ausgewählte Seiten gelesen würden.“
Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass Synchronicity und Lucinde sich regelmäßig missverstanden. Noch tragischer war, dass sie oft nicht einmal merkten, dass sie aneinander vorbeigesprochen hatten. Das Vier-Seiten-Modell erklärt, was bei der Kommunikation zweier Personen schiefgehen kann. Diese Situation ist bei zwei Büchern, die keine festen Einheiten sind, sondern wandelbar, weil sie sich verändern, je nachdem, wer sie liest, ungleich schwieriger. Ich wurde in diesen Situationen zur Mediatorin.
Es würde den Rahmen dieser Rede sprengen, auf die spezifischen Details der Missverständnisse einzugehen. Es genügt zu sagen, dass Bücher, die miteinander reden, ebenso wie Menschen, gut daran täten, sich immer wieder zu vergewissern bzw. sich bestätigen zu lassen, dass sie die Kommunikationsebenen richtig eingeordnet haben. Zudem ist es für Bücher empfehlenswert, mit einer erfahrenen dritten Person zusammenzuarbeiten.
Schließlich fragte ich Lucinde und Synchronicity: Wenn sie nur eine Botschaft für die Menschen hätten, welche wäre das? Ihre Antwort war – und hier zitiere ich: „Lest uns bitte langsamer. Wozu die ganze Hetze?“
4. Fazit
Das geringe Maß an Selbstreflexion, das viele Bücher immer wieder aufweisen, ist also auf die häufigen Missverständnisse bei der Kommunikation zurückzuführen. Und nicht etwa – zumindest nicht ausschließlich – auf fehlende Kommunikationsbereitschaft. Menschen, die mit offenem Verstand und offenen Herzen mit Büchern kommunizieren, ermöglichen uns zwei Dinge. Erstens erhalten wir durch sie Zugang zu einer ganzen Fülle von Informationen, die uns sonst verwehrt blieben. Zweitens öffnen sich Bücher dadurch mehr füreinander. Verbesserte Kommunikationsfähigkeiten führen zu einer verbesserten Selbstreflexion bei jedem einzelnen Menschen und jedem einzelnen Buch.
Zum Schluss möchte ich zwei oder drei vorläufige Prognosen stellen. Es ist nicht meine Aufgabe, Vorhersagen zu treffen, andererseits habe ich dieses Thema so lange untersucht, dass es mir nachlässig erschiene, keine Beobachtungen über die klaren Trends für die Zukunft mit Ihnen zu teilen.
Erstens glaube ich, dass sich unsere Situation verschlimmern wird, bevor sie sich irgendwann verbessert. Wir befinden uns weltweit auf einer Welle des Populismus, der die Demokratien bedroht. Es fühlt sich beängstigend an. Es ist beängstigend. Aber das spielt sich nicht erst seit gestern ab. Und wie beim Prinzip der homöopathischen Erstverschlimmerung bin ich fest davon überzeugt, dass das Pendel zugunsten der sozialen und moralischen Gerechtigkeit irgendwann wieder zurückschwingen wird. Wir dürfen nicht aufhören, daran zu glauben. Die Zahlen und die Bücher sind auf unserer Seite.
Zweitens dürfen wir nicht vergessen: Nicht alle werden es schaffen. Einige Menschen glauben aus Gründen, die nur sie kennen, an ein festes Narrativ, von dem sie nie abrücken werden, egal mit welchen Fakten man sie konfrontiert. Das ist ihre Entscheidung, für die allein sie die Verantwortung tragen. Investieren Sie Ihre kostbare Zeit und Energie sinnvoll. Bauen Sie Allianzen auf, stärken Sie Beziehungen und achten Sie auf die kleinen Dinge.
Drittens: Alle Personen hier im Raum tragen mindestens ein Buch in sich. Vielleicht ist es noch nicht geschrieben. Vielleicht ist es schon geschrieben worden, aber liegt in einer Schublade. Sprechen Sie mit diesem Buch. Machen Sie seine Hoffnungen und Träume ausfindig. Denn wir brauchen diese Bücher mehr denn je.
Referenzen:
Amjahid, Mohamed (2017) Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein (Berlin: Hanser Literaturverlage)
Eggers, Maureen Maisha; Kilomba, Grada; Piesche, Peggy & Arndt, Susan (2005) Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland (Münster: UNRAST Verlag)
Ergün, Mutlu (2010) Kara Günlük. Die geheimen Tagebücher des Sesperado (Münster: UNRAST)
Ha, Kien Nghi; Lauré al-Samarai, Nicola & Mysorekar, Sheila (2007) (Hg.) re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Münster: UNRAST Verlag)
Ogette, Tupoka (2018) Exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen (Münster: UNRAST Verlag)
Otoo, Sharon Dodua (2015) Synchronicity (Münster: edition assemblage)
Randjelović, Isidora (2015) «Das Homogene sind die Leute, die über Rrom_nja reden.» Zülfukar Çetin im Gespräch mit Isidora Randjelović. In: Çetin, Zülfukar & Taş, Savaş (Hg.) Gespräche über Rassismus. Perspektiven und Widerstände (Berlin: Verlag Yılmaz-Günay), Seite 31-44
Schlegel, Friedrich (1999) Lucinde (Stuttgart: Reclam Universal-Bibliothek)
Schulz von Thun Institut (2019) Das Kommunikationsquadrat (URL: www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat, zuletzt aufgerufen 06.10.19)
Shire, Warsan (2011) What they did yesterday afternoon (URL: coffeeandablankpage.com/tag/warsan-shire, zuletzt aufgerufen 09.10.19)
Yılmaz-Günay, Koray (2014) (Hg.) Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre "Muslime versus Schwule": Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001 (Münster: edition assemblage)
[1] Übersetzung: später in der nacht / hielt ich einen atlas in meinem schoß / strich mit den fingern über die ganze welt / und flüsterte / wo tut es weh? / er antwortete / überall / überall / überall