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Yue Daiyun

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Yue Daiyun

(1981)

Über den Text

 

 

 

Nietzsche und die moderne chinesische Literatur

 

Eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und kultureller Veränderungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewirkten, dass eine Vielzahl von westlichen Ideen in das zu dieser Zeit stagnierende und rückständige chinesische Reich gelangten. Das Ausmaß dieser Ereignisse war so groß und chaotisch und die Nachwirkungen so tiefgreifend und komplex, dass es in der gesamten Kulturgeschichte kaum Vergleichbares gibt.

Dieser Zeitraum und vor allem China als zentrales Beispiel für die gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung der östlichen und westlichen Kulturen ist in letzter Zeit zu einem Schwerpunkt der internationalen Forschung zur Kultur- und Ideengeschichte geworden. Seitdem die Harvard University 1954 John K. Fairbanks Chinas Response to the West herausgebracht hatte, stieg die Anzahl der Essays und Monographien, die sich mit diesem Thema befassen mehr und mehr an. Wichtige Werke sind zum Beispiel: A.R. Davis Der Eintritt Chinas in die Weltliteratur (1967), Jaroslav Průšek Der Gegensatz der traditionellen östlichen und der modernen westlichen Literatur innerhalb der Revolution der chinesischen Literatur (1964), Bonnie S. McDougall Einführung in den Einfluss westlicher Kunst- und Literaturtheorie auf das moderne China (1971) u.a. Die 1974 in Massachusetts einberufene internationale Konferenz zum Thema „Die Moderne chinesische Literatur zur Zeit der 4.-Mai-Bewegung“ brachte erneut zahlreiche Essays über den Einfluss westlicher, russischer und japanischer Trends auf die moderne chinesische Literatur hervor (vgl. den gleichnamigen Konferenzsammelband von 1977).

Leider ist die chinesische Forschung in diesen Fragen noch nicht weit genug entwickelt und selbst die wenigen Beiträge, die existieren, sind meist mehr oder weniger stark von metaphysischen Hemmnissen beeinflusst. Man ist nicht imstande sich wie ein wahrer Marxist zu verhalten, d.h. alle politischen, philosophischen und sogar individuellen Vorurteile abzulegen und den von der gesamten menschlichen Zivilisation hervorgebrachten geistigen Reichtum korrekt zu behandeln. Aber Marx und Engels haben auch in dieser Frage bereits früh gute Vorbilder abgegeben. So erklärte zum Beispiel Marx in einer Zeit, in der der nach damaligen Maßstäben eindeutig als reaktionär anzusehende Denker der Restauration G.W.F. Hegel von vielen als „ein toter Hund“ angesehen wurde: „Ich möchte öffentlich erklären, dass ich ein Schüler dieses großen Denkers bin.“ Und Lenin sagte einmal: „Dass sich auch in den Lehren von reaktionären Elementen (Historikern und Philosophen) die Gesetzmäßigkeiten der Ablösung des Politischen und die tiefen Gedanken des Klassenkampfes finden lassen, das hat Marx immer klar und eindeutig herausgestellt.“ Aber schon seit längerer Zeit sind wir nicht in der Lage an dieser Idee festzuhalten. Stattdessen werden die objektiven Leistungen einiger Denker und Künstler aus politischen Gründen oft mit nur einem Handstreich abgetan. Der von ihnen hervorgebrachte objektive Einfluss wird damit ebenfalls vollständig beseitigt, es wird sogar gesagt, dass ein eigentlich guter Einfluss in Wirklichkeit schlecht sei oder der Einfluss wird insgesamt den individuellen Fehlern und Schwächen des Einzelnen zugeschrieben, aber es werden gerade nicht die gesellschaftlichen Ursachen analysiert, die diesen Einfluss hervorgebracht haben. Besonders auffällig ist es, wenn ein und derselbe Denker oder Künstler erst positiv bewertet wird und ihm zu einem späteren Zeitpunkt dann doch negative Effekte zugeschrieben werden. Dieses Vorgehen hindert uns daran die grundlegenden Erscheinungen der Geschichte zu verstehen und objektiv existente historische Phänomene korrekt zu beurteilen. Der vorliegende Text möchte dieses Problem am Beispiel des deutschen Philosophen Nietzsche und seines Verhältnisses zur chinesischen Literatur ansatzweise diskutieren.

Nietzsches (1844-1900) Ideen und Schriften nahmen im Wesentlichen während der 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts Gestalt an. Dies war die Zeit, in der sich der "Laissez-Faire-Kapitalismus" in den Monopolkapitalismus zu transformieren begann, in der die revolutionäre Bewegung der Pariser Kommune zwar unglücklich niedergeschlagen wurde, aber dennoch großen Einfluss erlangte und in der der Marxismus weitreichend und erfolgreich verbreitet werden konnte. Nietzsche wollte zum einen den Kapitalismus vor dem Niedergang bewahren, zum anderen versuchte er verstärkt die Entwicklung des Sozialismus zu verhindern. Seine Theorie lässt sich mit „die Umwertung aller Werte“, der Lehre vom Übermenschen und der Theorie des Willens zur Macht zusammenfassen. Er hat die Heuchelei und die Verbrechen der kapitalistischen Gesellschaft bis auf den Grund hin aufgedeckt, klar gesagt, dass „Gott tot ist“ und das alle alten Idole und Traditionen rigoros vernichtet und alle Werte neu bestimmt werden müssten. Seine Lehre vom Übermenschen besagt, dass durch den gesellschaftlichen Druck und die durch die Arbeitsteilung hervorgerufene Trivialität der Mensch verdreht und fragmentiert worden sei. Deshalb müsse diese Art von gewöhnlichem Menschen überwunden werden, dies impliziert auch die Trivialität des eigenen Körpers zu überwinden und zu einer gesunden, gänzlich neuen Art von Mensch zu werden – dem Übermenschen. Aber nur eine ganz kleine Anzahl von Menschen hätte die Veranlagungen diese Stufe zu erreichen. Die große Masse sei lediglich das Werkzeug ihres (der Übermenschen) Werks. Deshalb sei jedes Bewusstsein und jede Entwicklung von Stärke der Massen nur eine Bedrohung und Behinderung der Entwicklung des Übermenschen. Nietzsche meinte auch, dass der stärkste und edelste Lebenswille nicht der kaum zu erwähnende Kampf ums Überleben, sondern der Wille zum Kampf, der Wille zur Macht sei. Er war der Meinung, dass dieser Impuls in Richtung Macht der einzige ursprüngliche Impuls sei, alle dadurch produzierten Handlungen seien rationell und großartig.

Nietzsche ist letztlich an Irrsinn gestorben und seine Schriften zeugen überall von fehlender Logik. Durch Tiefe und Einmaligkeit gelang es ihm jedoch überzeugende Metaphern und Symbole zu schaffen. Daneben finden sich aber immer wieder unbewusst unverständliche Darstellungen und es mangelt nicht an dem Nonsens eines Verrückten. Seine Lehren sind sowohl reichhaltig als auch chaotisch, angefüllt von komplizierten Widersprüchen, aber auch von vielen wertvollen Dingen. Vor über dreißig Jahren hat der Genosse Aisiqi einmal gesagt: „Der Idealismus Nietzsches ist die Enthüllung des im Niedergang begriffenen, parasitären Bürgertums, des vulgären und degenerierten Materialismus“. Nietzsches extremer Individualismus sei außerdem „Protest gegen die heuchlerische Demokratie des Bürgertums, die im Namen Aller das gesellschaftliche Leben kontrolliert“. Diese wertvollen Dinge sind die Begründung dafür, dass Nietzsche während der gesamten 4.-Mai-Bewegung einen so großen Einfluss in China hatte.

Nietzsche wurde in China zunächst nur als Schriftsteller bekannt. Er hatte größeren Einfluss auf die chinesischen Literaturkreise als auf den Bereich der Philosophie. Als Wang Guowei 1904 Nietzsche das erste Mal vorstellte, betonte er zunächst, dass „er mittels seines unerreichten literarischen Talents seine Theorien propagiert“ habe und das Ziel der nietzscheanischen Theorie darin bestünde: „die alte Kultur zu zerstören und eine neue Kultur zu erschaffen.“ Um „die Last der alten Kultur zu mindern“, müsse „der Umsturz aller Werte versucht werden“ und man müsse rebellieren ohne Angst zu haben. Wang lobte Nietzsche für seinen „mit extrem großen Wissen gepaarten, unglaublich starken Willen“: „Nietzsche blickt von einer erhabenen Position auf die intellektuellen Kreise, Qinhuang und Hanwu sind nur seine Vasallen; Cheng Jisihan und Napoleon können ihn nicht erreichen.“

In einigen Texten über Japan sprach Lu Xun kurze Zeit später wiederholt positiv von Nietzsche als einem „Individualisten mit überaus großem Talent“, das im „Nachsinnen, in der Wissenschaft und in seinen Zielen und Handlungen“ lag und all dies „reichhaltig, tief und weitreichend, kraftvoll und loyal zu sich selbst, ein Gelehrter, der sich immer gegen seine Generation stellte und dennoch nie Furcht empfand.“

1915 veröffentlichte Chen Duxiu in der „Neuen Jugend“, den ersten Teil von „Aufruf an die Jugend“ und zitierte dort aus Nietzsches Überlegungen zur Sklaven- und Herrenmoral. Chen war der Meinung, dass es sich bei diesen Gedanken um eine Waffe im Kampf gegen die Feudalherrschaft handelte und betonte: „‚Zhong‘, ‚Xiao‘, ‚Jie‘ und ‚Yi‘, dies ist die Moral der Sklaven. Leichte Strafen und niedrige Steuern, darin besteht das Glück der Sklaven. Großartige Taten loben, das tun die Texte der Sklaven. Die Gunst eines Adligen akzeptieren, das ist Ehre ohne Schande für den Sklaven. Monumente und große Gräber, darin besteht das Gedenken der Sklaven.“ Unabhängig davon, ob es sich bei diesen Dingen um Ehre oder Schande handelt, es geht immer darum, dem Befehl eines anderen zu gehorchen: „Sich selbst nicht als Standard nehmen, die individuelle Autonomie und die gleichberechtigte Person verschwinden lassen, bis sie nicht mehr existiert und nicht mehr in der Lage sein, zu entscheiden, ob eine gute oder schlechte Handlung von dem eigenen Willen herrührt, derjenige, auf den das alles zutrifft, den nennt man einen Sklaven.“

Am Neujahrstag 1917 sagte Cai Yuanpei während einer Rede auf einem Empfang von Politikern und Wissenschaftlern: „Nietzsche (der große deutsche Schriftsteller) hat die Theorie der natürlichen Auslese wiederentdeckt: Die Schwachen müssen sich davor fürchten, die eigene Entwicklung nicht aufrechterhalten und gegen die Starken nicht bestehen zu können: auf diese Weise entwickelt sich die Evolution der Welt“. Im Februar 1918 betonte Chen Duxiu in der Moral des Lebens erneut eine von Nietzsches Positionen: „Respekt für den Willen des Einzelnen zeigen, das Talent des Einzelnen ins Spiel bringen, ein erfolgreicher großer Künstler oder großer Unternehmer werden und bekannt sein als ein über den gewöhnlichen Menschen stehender Übermensch, dass ist das Ziel des Lebens. Diejenigen, die von Moral, Menschlichkeit und Gerechtigkeit sprechen, sind nichts als Heuchler.“ Es wird deutlich, dass Nietzsche zur Zeit der 4.-Mai-Bewegung relativ vielen Personen bekannt war. Er wurde als ein großer Denker in China vorgestellt. Die Verbreitung seiner Theorien diente als positive Unterstützung der großen Welle der antifeudalen, demokratischen Revolution der 4.-Mai-Bewegung.

Nach der 4.-Mai-Bewegung verbreiteten sich Nietzsches Werke innerhalb der Literatur- und Kunstszene noch weiter. Im selben Monat, in dem die 4.-Mai-Demonstrationen stattfanden, appellierte Fu Sinian in der Zeitschrift „Neue Welle“: „Wir müssen an den Straßen Laternen aufhängen, um nach dem Übermenschen zu suchen und einen Knüppel nehmen und entlang der Straße den Teufel schlagen“. Und er lobte Nietzsche als einen „Denker, der auf extreme Weise Idole zerstört.“ Im September desselben Jahres stellte Tian Han in der Zeitschrift „Das Junge China“ zum ersten Mal Nietzsches Frühwerk Die Geburt der Tragödie vor und betonte besonders zu kämpfen, denn „je qualvoller das Leben ist, desto stärker muss unser Wille sein“. Im Anschluss daran veröffentlichte Shen Yanbing in der Zeitschrift „Befreiung und Reform“ Übersetzungsmanuskripte der beiden umstrittensten Kapitel aus Nietzsches berühmten Buch Also sprach Zarathustra: „Vom neuen Götzen“ und „Von den Fliegen des Marktes“. Und im Vorwort lobte er: „Nietzsche ist ein bedeutender Schriftsteller, mit einer scharfen Feder.“ Nietzsche hat viele erstaunliche Sachen gesagt. Wenn man Also sprach Zarathustra liest, versteht man sofort, dass es für die Literaturgeschichte ein ganz besonderes Buch ist. Anfang 1920 schrieb Shen die große Monographie Nietzsches Lehre, in der er Nietzsches Theorie ausführlich vorstellte und besprach. Sie erschien im „Studentenmagazin“ im siebten Band, aufgeteilt in vier Folgen. Im August desselben Jahres brachte „Die Glocke des Volkes“ eine Sonderausgabe über Nietzsche heraus, stellte Nietzsche umfassend vor und widersprach auch der Annahme, dass Nietzsche Schuld am Ersten Weltkrieg habe. Im September veröffentlichte die „Neue Welle“ im zweiten Band der fünften Nummer das von Lu Xun übersetzte Vorwort von Also sprach Zarathustra, zusammen mit Lu Xuns einflussreicher Erklärung, in der er auch sagt: „Nietzsches Texte sind insgesamt sehr gut, dieser Text verwendet dazu noch Metaphern und hat auf den ersten Blick viele Widersprüche und ist damit nicht einfach zu verstehen“. Zu dieser Zeit zitierte Lu Xun oft aus Nietzsches Texten, oder verband Nietzsches Lehre mit analytischen Fragen. Sein Zugang zu Nietzsche unterschied sich bereits deutlich von dem um 1907.

Zu dieser Zeit schwärmte auch Guo Moruo von Nietzsche. Weil ein Laden für fremdsprachliche Bücher in Shanghai unerwarteter Weise keine Ausgabe von Nietzsches Ecce Homo hatte, beschimpfte er die Buchhandlung als „verkommener Papierkorb“. 1923 übersetzte er den kompletten ersten und einen Abschnitt des zweiten Teils von Also sprach Zarathustra, der in der „Wochenzeitung Aufbau“ in 39 Teilen veröffentlicht wurde. „Zunächst war es interessant für jede Woche einen passenden Teil auszuwählen“. Später hatte er jedoch das Gefühl, dass „die Reaktionen der Leserschaft ausbleiben“ und unterbrach die Herausgabe. Als er aber zufällig nach Wuju, einem kleinen Dorf im Südosten Jiangsus reiste, um an der Hochzeit eines Grundschullehrers teilzunehmen, waren die ersten Worte der Braut: „Ich mag Nietzsches Also sprach Zarathustra. Warum wurde es nicht zu Ende herausgegeben?“ Als Guo realisierte, dass es sehr wohl ein Echo in der Leserschaft gab, sagte er: „Wenn ich gewusst hätte, dass eine gute Dame so viel Interesse zeigt, dann hätte ich diese Arbeit sicherlich nicht mittendrin unterbrochen.“

Nach dem Jahre 1925, aufgrund der stürmischen Entwicklung der revolutionären Situation, hatte eine breite Masse von Arbeitern und Bauern und auch viele Intellektuelle bereits den für die chinesische Gesellschaft passenden Weg gefunden und warf sich zahlreich in den gegen die Monarchie und den Feudalismus gerichteten revolutionären Ansturm. Der Einfluss Nietzsches wurde immer geringer, bis er schließlich ganz erlosch. Genau wie Guo Moruo sagte: „Zu jener Zeit (1926) war Nietzsche komplett aus dem Zentrum meines Bewusstseins verschwunden.“ Zu dieser Zeit waren der Weg und das Ziel der chinesischen Revolution bereits klar und deutlich. Man verweilte nur um auszurufen: „Wir brauchen die Kraft zur Bewegung, die Kraft wie verrückt zu schreien, die Kraft zu provozieren, die Kraft anzugreifen, die Kraft zu revoltieren, die Kraft zu töten.“ Die Zustimmung des Volkes ließ sich nicht mehr auf dieselbe Art und Weise motivieren wie noch zu Beginn der 4.-Mai-Bewegung. Deshalb gründete sich zwischen 1925 und 1926 um Gao Zhanghong und Xiang Peiliang die „Wirbelsturm Gesellschaft“. „Nietzsches Worte“ waren für sie wie „Kriegstrommeln“, die „die Menschen lehrten sich auf die Ankunft des Übermenschen vorzubereiten“; oft „ahmen wir die aphoristischen Texte Nietzsches nach, die niemand von uns verstehen kann.“ Zwar gab es darauf keinerlei Reaktionen. Aber bei ihrem Verständnis von Nietzsche ging es ihnen immer noch darum, alle Hemmnisse der alten Traditionen aus dem Weg zu räumen, um ein großer Mensch zu werden und alle Hindernisse beseitigen zu können. Damit unterschieden sie sich grundlegend von der in den 40er Jahren von der „Schule der Strategie der Streitenden Reiche“ propagierten Nietzsche-Theorie. Zuletzt war es 1930 Yu Dafu, der zwischen seiner Unzufriedenheit mit den alten Mächten und der durch das Scheitern der Revolution ausgelösten Entmutigung, unter dem Titel Die andere Seite des Übermenschen Nietzsches sieben Liebesbriefe veröffentlichte und die „Reinheit seiner Gedanken“ sowie seine „einsame Sturheit“ lobte. In der Atmosphäre des weißen Terrors erschien Nietzsche dem Leser in Form eines einsamen Rebellen.

Mit Beginn der 40er Jahre und der Veränderung der politischen Situation in China und der gesamten Welt entwickelte Nietzsche mit einem vollständig anderen Erscheinungsbild auch eine komplett andere Wirkung in China. Um 1940 herum, zu einer Zeit des weltweiten Faschismus und des ungezügelten Anti-Kommunismus und Anti-Volk-ismus von Jiang Jieshis Goumindang wurde die Lehre Nietzsches durch Nazi-Intellektuelle längst zur Basis ihrer faschistischen Ideologie transformiert. Zu dieser Zeit gründete sich innerhalb der literarischen Kreise auch die „Schule der Strategie der Streitenden Reiche“.[20] Sie erhob Nietzsche zum „fortschrittlichsten, revolutionärsten und an Idealen reichsten politischen Denker“. Seine Schriften seien „ein Symbol für das Steigen der Lebenskraft“, „der Zenit des Lebens“ und „produzierten pures Feuer“. In ihren Leitorganen: der zweiwöchentlich erscheinenden „Schule der Strategie der streitenden Reiche“ und der wöchentlichen Zeitschrift „Streitende Reiche“ veröffentlichten sie nacheinander die Aufsätze: „Nietzsches Theorie“, „Nietzsches politische Theorie“, „Über die Heldenverehrung“, „Noch einmal über die Heldenverehrung“, „Charakter und Theorie des deutschen Volkes“, „Wirbelsturm Literatur“, „Volksliteraturbewegung“, „Stärke“, „Der starke Mensch“ etc. Außerdem publizierten sie: Von Schopenhauer zu Nietzsche, Neue Trends der Literaturkritik, Die Wellen der Generationen und andere Monographien oder Sammelbände. Mit großem Elan propagierten sie Nietzsches Lehre und „versuchten sie zu nutzen, um eine eigene Kunst- und Literaturtheorie zu entwickeln“ und entfachten damit feierlich einen Nietzsche Hype. Für sie konnte Nietzsche nur als Idol respektiert und verehrt werden und auch als kraftvolle Waffe zur Verteidigung der reaktionären Herrschaft, zur Propagierung von Krieg und zur Unterdrückung der Massen.

Aus dieser knappen Darstellung lässt sich bereits erkennen, dass Nietzsche einen gewissen Einfluss auf die moderne chinesische Literatur gehabt hat. Die Art und Weise des Einflusses richtete sich nach den unterschiedlichen politischen Anforderungen und Veränderungen der jeweiligen Epoche. Was die Menschen vor der Xinhai Revolution bei Nietzsche fanden, war ein literarisches Talent von überaus starkem Willen und Intellekt, von dem man sich erhoffte, dass es das vom Untergang bedrohte chinesische Reich rette. In den Augen der Menschen während des 4. Mai war Nietzsche vor allem ein Vernichter des Glanzes aller alten Traditionen, er half den Menschen aus der jahrtausendealten Feudalherrschaft zu entfliehen; jemand der andere zur andauernden Selbstverbesserung anhielt (obwohl das nicht Nietzsches originäre Idee war). Nach 1927, aufgrund der Entwicklung der revolutionären Situation, griffen die progressiven intellektuellen Kreise immer seltener auf Nietzsche zurück. Mit Beginn der 40er Jahre, um den politischen Bedürfnissen der faschistischen Goumindang Herrschaft gerecht zu werden, wurde Nietzsche in einem Teil der von der Goumindang kontrollierten Gebiete und unter den Intellektuellen breit propagiert. Zu dieser Zeit unterschied sich das Verständnis von Nietzsche, unabhängig davon, ob es um Ziel, Methode oder gesellschaftliche Wirkung ging, vollständig von dem der Zeit der 4.-Mai-Bewegung.

Man kann erkennen, dass ein von außen kommender Denker in einem anderen Land Einfluss haben kann. Aber welche Art von Einfluss er produziert, darüber entscheiden zuerst einmal die politischen und historischen Anforderungen des jeweiligen Landes. Eine vollständige Kopie oder bedingungslose Transplantation ist unwahrscheinlich. […]

 

Übersetzung von René Kluge



Über den Text: Dies ist eine Übersetzung des ersten Teils von 尼采与中国现代文学, erschienen im Jahre 1981 in der Zeitschrift der Peking Universität (北大学报). Hervorhebungen im Text sind aus dem Original, die Fußnoten und Anmerkungen sind von mir, R.K..


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(Alle Fußnoten in der pdf)