Literatur und Erkenntnis – Methodische Grundlagen der Interpretation antiker Dichtung
Das Zusammenwirken von Literatur und erkenntnistheoretischer Begründung ist für alle unterschiedlichen Formen antiker Literatur konstitutiv. Als im 3. Jahrhundert v. Chr. die alexandrinischen Dichter angetreten sind, die alte Dichtung zu überwinden und durch eine radikal neue, methodisch reflektierte Dichtung zu ersetzen, basierte diese Wende auf einer neuen Erkenntnistheorie. Die von den drei großen hellenistischen Philosophenschulen demonstrativ inszenierte erkenntnistheoretische Wende bestritt die Prinzipienkompetenz der Ratio in Aestheticis und etablierte die Phantasia, das Vorstellungsvermögen, als neue Leitinstanz der Literatur.
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde von vielen verschiedenen literaturwissenschaftlichen Richtungen inspiriert das Projekt einer Neuinterpretation antiker Literatur mit dem Begriffs- und Methodenarsenal der gegenwärtigen Literaturtheorien ausgerufen. Dabei sollten genuin moderne Qualitäten von Literatur auch bereits in antiker Literatur entdeckt werden. Entdeckt wurden die antiken Literaturen dadurch – erneut – als Vorstufen und unvollkommene Vorbereiter derjenigen Tugenden von Literatur, die erst in der Moderne nach ihren kritischen Wenden zur Vollendung gebracht werden konnten.
Im Zuge dieser Suche nach Aktualität und Modernität wurden viele Einzelinterpretationen unternommen, deren Ziel nicht die methodische Begründung, sondern die Umsetzung der Interpretationsvorgaben bestimmter genuin moderner Literaturtheorien war.
Das Leibnizprojekt „Literatur und Erkenntnis – Methodische Grundlagen der Interpretation antiker Dichtung“ hat die häufig unbestimmt gebliebene Analyse des Zusammenhangs zwischen erkenntnis- und literaturtheoretischer Begründung und literarischer Praxis zu seinem Thema. Erschlossen werden sollen dabei zum einen die unterschiedlichen Literaturkonzepte der Antike und zum anderen der wirkungsgeschichtliche Einfluß der sich in vielen Epochen wiederholenden Ausbildung des modernen Selbstbewußtseins auf die Interpretation antiker Texte.