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Kadenz

Die Kadenz ist eine in der Prosodie der US-amerikanischen Imagisten (Fletcher, Hulme, Pound, Lowell) entwickelte Form, die aus einer Distanzierung von den strengen metrischen Schemata ausging. Stattdessen orientierte sich die Lyrik der Imagisten am französischen vers libre, entwickelte also eine klare, präzise Sprache, stringente Verszeilen und einen freien, an der musikalischen Phrase orientierten Rhythmus, den ‚free verse‘. Die Grundidee der Kadenz besteht darin, dass jede Zeile einem Atembogen entspricht: 1920 erklärte Amy Lowell die Kadenz zur rhythmischen Grundform der Imagisten und verknüpfte diese mit dem Konzept der Atmung: „By 'cadence' in poetry, we mean a rhythmic curve, containing one or more stressed accents and corresponding roughly to the necessity of breathing.“ Der um 1915 entstandene Begriff der Kadenz bezeichnet also eine rhythmische Grundeinheit, in welcher erstmals das Zusammenspiel von Verszeile und Atembogen angedeutet ist: Ezra Pounds Grundlage war dabei die sogenannte "line-sentence". Auf Initiative von Ezra Pound verfassten ab 1912 aber auch andere „Imagisten“ wie T. S. Eliot, William Carlos Williams, Hilda Doolittle, Carl Sandburg oder Amy Lowell eine am prosodischen Konzept der „Kadenz“ orientierte Dichtung. Deren Muster zeigt etwa die folgende Passage aus Carl Sandburgs Gedicht Nocturne In A Deserted Brickyard:

 

Stuff of the moon

Runs on the lapping sand

Out to the longest shadows.

Under the curving willows,

And round the creep of the wave line,

Fluxions of yellow and dusk on the waters

Make a wide dreaming pansy of an old pond in the night.

 

Die „necessity of breathing“ ordnet jeder einzelnen Zeile einen Atembogen zu, sodass die „breath-controlled line“ tendenziell als isochrones Prinzip fungiert. Wie George Steiner betonte, geht die eigentliche Grundlage dieses Musters auf Ezra Pounds Gedichtband Cathay von 1915 zurück (Steiner 1975, S. 358). In Cathay folgt Pound der chinesischen Lyrik, die praktisch keine Enjambements kennt, wodurch sich die sogenannte line-sentence erklärt, die etwa dem folgenden Gedicht zugrunde liegt:

 

South-Folk in Cold Country

 

The Dai horse neighs against the bleak wind of Etsu,

The birds of Etsu have no love for En, in the north,

Emotion is born out of habit.

Yesterday we went out of the Wild-Goose gate,

To-day from the Dragon-Pen.

Surprised. Desert turmoil. Sea sun.

Flying snow bewilders the barbarian heaven.

Lice swarm like ants over our accoutrements.

Mind and spirit drive on the feathery banners.

Hard fight gets no reward.

Loyalty is hard to explain.

Who will be sorry for General Rishogu, the swift moving,

Whose white head is lost for this province?

Ausgangspunkt dieser line-sentence waren die Manuskripte des amerikanischen Philosophen Ernest Fenollosa, die eine wörtliche Übersetzungen alter chinesischer Dichtung und Texte des japanischen Nō-Theaters enthielten. Aus dieser Vorlage entwickelt Pounds Gedicht das vers libre-Prinzip, wonach sich jede Zeile als Einheit einer Sprachgeste und somit als poetische Einheit versteht. Im zitierten Gedicht enthält daher jede Zeile einen vollständigen, teilweise sentenzhaft zugespitzten Aussagesatz, ähnlich wie in dem Gedicht Exile's Letter. In den USA reichte die Wirkung der Kadenz von William Carlos Williams und Charles Olson bis hin zu Autoren wie Charles Bernstein und Bob Perelman. In Deutschland findet sich die Kadenz  vor allem nach 1945, und war bis hin zur Lyrik von Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Nicolas Born oder Hans Magnus Enzensberger einflussreich, der sich in den 33 Gesängen des Poems Der Untergang der Titanic an Ezra Pounds Cantos orientierte.

Literatur:

Amy Lowell: „Some Musical Analogies in Modern Poetry”, in: Musical Quarterly, 6 (Jan. 1920), S. 127-157, hier S. 141.

The Complete Poems of Carl Sandburg, London 1970, S. 55.

Selected Poems and Translations of Ezra Pound 1908-1969, ed. Richard Sieburth, S. 64f.

Steiner, George: After Babel: Aspects of Language and Translation, Oxford, 1975.