Detailbeschreibung des Sammelbands
- Zeno Ackermann und Sabine Schülting (Hg.), Shylock nach dem Holocaust: Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur, Conditio Judaica (Berlin: de Gruyter, 2011).
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Nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust und dem Kollabieren der nationalsozialistischen Gesellschaft erlangte Shakespeares Kaufmann von Venedig erstaunlich rasch wieder seine traditionelle Stellung nah am Zentrum des bundesdeutschen Theatergeschehens. Obwohl (oder gerade weil) das Stück heterostereotypische und antisemitische Konstruktionen 'des Jüdischen' ausstellt, konnte es – wie Markus Moninger noch 2001 formulierte – als Bühne für "das Drama der deutschen Nachkriegsgesellschaft im Umgang mit Auschwitz" dienen. Der Sammelband zeichnet wesentliche Stationen dieses "Dramas" nach. Über die Analyse der Rezeption der Figur des Shylock werden so Grundlinien einer Geschichte der deutschen Erinnerung an den Holocaust entwickelt.
Die Einzelbeiträge von Anglisten, Germanisten, Historikern, Theaterwissenschaftlern und Theaterpraktikern leisten aber nicht nur einen repräsentativen Rundgang durch das Rezeptionsgeschehen und durch die deutsche Erinnerungsgeschichte, sondern sie fragen auch nach den Bedingungen, Folgen und Grenzen der Funktion des Stücks als Medium von 'Erinnerung' und 'Aufarbeitung'. Neu beleuchtet werden zum einen die häufig vernachlässigte Frühphase der Rezeption in Westdeutschland sowie zum anderen die Rolle des Kaufmann von Venedig in der DDR, wo das Stück bezeichnenderweise nur äußerst selten aufgeführt wurde. Ein Schwerpunkt des Bands liegt auf der kritischen Analyse aktueller Phänomene und Strömungen bis in die jüngste Gegenwart. Wie reagieren Regisseure – insbesondere Regisseure der "dritten Generation" – auf eine historische Situation, die durch die Transformation des Erinnerungsdiskurses genauso geprägt ist wie durch tiefgreifende Verunsicherungen im Zuge eines globalisierten Wirtschaftssystems sowie durch intensive Debatten über Probleme und Potentiale einer multiethnischen Gesellschaft?
Ausgehend von dieser Analyse des Rezeptionsgeschehens stellt der letzte Teil des Bands die Frage nach der Signifikanz Shylocks als einer Erinnerungsfigur noch einmal kategorisch. Indem sie die Bedeutungsökonomie des Stücks aus der Sicht der Emotionsforschung, der Rechtsgeschichte und der Gender Studies beleuchten, zeigen die abschließenden Beiträge neue Perspektiven für die gegenwärtige und zukünftige Rezeption des Kaufmann von Venedig auf.
Inhalt und Aufbau
Die erste Gruppe von Beiträgen setzt sich mit den Möglichkeiten auseinander, die Erinnerungsgeschichte(n) in beiden deutschen Staaten 'durch das Fenster' der Rezeption von Shakespeares problematischer Komödie zu perspektivieren und rekonstruieren. Als Basis der folgenden Analysen bietet der eröffnende Aufsatz des Historikers MATTHIAS WEIß eine konzise – und teilweise auch provokante – Darstellung der Geschichte der Erinnerung an den Holocaust in Deutschland. Der anschließende Beitrag von ANAT FEINBERG leistet einen einführenden Überblick über die Bühnengeschichte des Stücks seit Ende des Zweiten Weltkriegs, wobei die Darstellung der Shylock-Figur in ihren Wechselwirkungen mit den Repräsentationen und Funktionalisierungen von Lessings Nathan diskutiert wird. ZENO ACKERMANN setzt sich mit der wissenschaftlich deutlich unterbelichteten Frühphase des Rezeptionsgeschehens in Westdeutschland (1945 bis 1960) auseinander. Er stellt scheinbar selbstverständliche Annahmen zur Rezeption des Stücks unmittelbar nach dem Holocaust in Frage und zeigt, dass der Kaufmann von Venedig zunächst keineswegs immer als Erinnerungstheater gespielt wurde, sondern gerade der symbolischen Regeneration eines erschütterten nationalen Kollektivs dienen sollte. MAIK HAMBURGER bietet einen reflektierten Blick hinter die Kulissen der – wenigstens den Aufführungszahlen nach – so spärlichen Rezeption des Stücks in der DDR. Hamburger rekonstruiert die durchaus vielschichtigen Debatten, die ostdeutsche Theaterleute schon früh über die (Un-)Aufführbarkeit des Stücks nach dem Holocaust führten.
Die vier Aufsätze des zweiten Teils analysieren und reflektieren das Rezeptionsgeschehen im, dem Anspruch nach, "normalisierten" Deutschland der Berliner Republik und verfolgen die Debatte bis in die unmittelbare Gegenwart. Der den Abschnitt eröffnende Aufsatz von SABINE SCHÜLTING systematisiert die kulturpolitischen Funktionen Shylocks als widersprüchlicher Erinnerungsfigur im Licht der Forschungsdebatte zum kulturellen Gedächtnis und bezieht sich dabei insbesondere auf jüngste Inszenierungen. Ausgehend von Gerhard Stadelmaiers doppelbödig-provokanter Frage, ob "der Jude" nun wieder "böse sein" dürfe, bietet GUIDO SCHENKEL eine kritische Detailanalyse diskursiver und rezeptionsgeschichtlicher Entwicklungen zwischen Martin Walsers Friedenspreis-Rede von 1998 und der Jahrtausendwende. Der Aufsatz des Theaterwissenschaftlers JENS ROSELT konzentriert sich auf eine einzige Inszenierung aus dem Jahr 2008, nämlich die Arbeit des deutschen Regisseurs Stefan Pucher am Schauspielhaus Zürich, der die Neuübersetzung des Stücks durch Roselt selbst zugrunde lag. FRANZISKA REINFELDT zeigt eine wichtige Tendenz aktueller Inszenierung auf, nämlich das besondere Interesse an Shylocks Tochter Jessica, deren Rolle häufig durch Textzusätze aufgewertet und zur Artikulation aktueller Problematiken (darunter etwa auch die Situation junger Muslimas in der deutschen Gesellschaft) genutzt werden soll. Der den zweiten Teil des Sammelbands abschließende Beitrag bietet bewusst keine Analyse, sondern vielmehr eine beispielhafte Fortschreibung des aktuellen Rezeptionsgeschehens: MARION HIRTE führt aus der Perspektive der Theaterpraktikerin vor, welche zeitbestimmenden (bundesdeutschen) Diskurse durch Shakespeares Stück heute aufgerufen werden bzw. sich aufrufen lassen.
An den Aufsatz Hirtes anschließend führen die Beiträge des letzten Teils von der Analyse der Rezeption des Kaufmann von Venedig zur (Neu-)Interpretation der Potentiale des Stücks im Kontext aktueller wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Debatten. In seiner Untersuchung der Affektökonomie des Kaufmann von Venedig mischt sich OLIVER LUBRICH in die fortgesetzte Auseinandersetzung um die Aufführbarkeit des Stücks ein. Er argumentiert, dem Drama sei eine eindrückliche Dekonstruktion der ihm zugrunde liegenden antisemitischen Ideologie eingeschrieben. In ähnlicher Weise geht BERNHARD GREINER bei seiner Analyse der dramatischen Darstellung und gleichzeitigen Metaphorisierung juridischer Diskurse durch das Drama von dem erklärten Ziel aus, der gegenwärtigen Rezeption eine neue Grundlage zu schaffen. Ausgehend von einer Deutung der Bezugnahmen auf den Kaufmann von Venedig in Ernst Lubitschs To Be or Not to Be (1942) erarbeitet ELISABETH BRONFEN schließlich eine für die Gegenwart gültige Perspektive auf Shakespeares Stück. Bronfen zeichnet die wechselseitige Verunsicherung von antisemitischen Stereotypen und tradierten Gender-Konzepten nach und ruft dazu auf, von Lubitsch über die Bedeutungspotentiale des Kaufmann von Venedig zu lernen.