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Erich Arendt, Kritische Werkausgabe

DFG-Projekt

Entgrenzen heißt der Titel des letzten Gedichtbandes von Erich Arendt (1903-1984), und er bezeichnet zugleich dessen wichtigstes Lebens- wie auch Schaffensprinzip. Das vielseitige Interesse des Dichters, Essayisten, Übersetzers, Fotografen und Lehrers prägte Werk und Leben: wie kaum ein anderer Exilant aus Nazi-Deutschland hat Arendt dabei seine jeweils neue Lebenswelt thematisiert - zunächst seine Eindrücke vom Spanischen Bürgerkrieg, später die postkoloniale Gesellschaft Kolumbiens und die Naturgewalt der Tropen, deren Existenzbedingungen von den Kulturlandschaften Europas so verschieden sind. Letztere und ihre Mythen, allen voran der Mittelmeerraum, dominieren das motivische Panorama seines Spätwerks.

Nach der Remigration 1950 in die DDR und der Hoffnung, dort am Aufbau eines ›besseren Deutschland‹ mitwirken zu können, gewahrt und verarbeitet Arendt im Verlauf der fünfziger und sechziger Jahre mehr und mehr das fortschreitende Erstarren, Verkümmern der utopischen und sozialistischen Kräfte im Lande. Gemeinsamer Grund jedes konkreten Engagements ist durch alle Lebensphasen sein Interesse an einer »Geschichtsschreibung von der Leidensseite her« (im Gespräch mit Gregor Laschen), also eine generelle Kritik von Herrschaft. Als Pädagoge überzeugt von der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie des Individuums, hatte Arendt übergreifenden Systemen gegenüber eine eigentlich anarchistische Haltung. Sein Ideal von Gesellschaft sah er verkörpert in der seit Jahrtausenden jeder Fremdherrschaft trotzenden, im Grunde sich aber selbst organisierenden Bevölkerung der griechischen Inseln. Die Welt von Kunst und Literatur bildet für den Autor einen Intertext, der »ja unbedingt von allen Seiten auf einen einströmen muß, von Ost, West, Süd und Nord, um produktiv zu bleiben« (im Gespräch mit Manfred Schlösser).

Die schriftstellerische Entwicklung Erich Arendts erscheint als ein besonderes Phänomen: in lebenslanger Synthese von (Mit-)Erleben und künstlerischer Arbeit erlangt er seine Bedeutung als Autor erst im letzten Drittel seines Lebens. Die Schwierigkeit, im Formalen ›seßhaft‹ zu werden - von den spätexpressionistischen Anfängen über den sozialistisch-realistischen Neoklassizismus zu den freien, dennoch strengen, oft ›hermetischen‹ Formen des Spätwerks -, wandelt sich schließlich in eine Aporie des traditionellen Werkbegriffs mit der Weigerung, die einzelnen Texte zu einem Ende kommen, fertig werden zu lassen. Seine Poetik läßt sich dabei beschreiben als Suche nach der poésie pure: »der Entfesselung der assoziierenden Phantasie, der visuellen Umsetzung rhythmisch-musikalischer Vorstellungen, vom Gedanken der Zerstückelung, der Zertrümmerung von zusammenhängenden Bildern oder Satzstrukturen, Zeilen, ja Worten, der Absolutsetzung des Einzelwortes.« (Manfred Schlösser) - Die Folge des Entgrenzens ist dabei der Dialog, der nicht zwangsläufig in Synthesen münden muß und stattdessen von der Spannung lebt, die jedem Synkretismus eignet.

Die kritische Edition der Werke Erich Arendts will zugleich dem Anspruch des Lesers an einen lesbaren, von editorischen Sonderzeichen weitgehend unbelasteten Text genügen wie neuere editionswissenschaftliche Erkenntnisse zur Anwendung bringen. Nach Konsultation aller Druckfassungen und der Handschriften wurden differenzierte Kriterien zur Edition eines ›Lesetextes‹ entwickelt. Gegenüber den oft fehlerhaften und graphisch undeutlichen Einzelausgaben soll durch die so geschaffene Textgrundlage die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Arendts Werk erleichtert werden.

Die Apparate zu den beiden Gedichtbänden vollziehen dagegen gewissermaßen eine ›pragmatische Wende‹ in der Editionsphilologie: neben einem vollständigen Verzeichnis der Quellen zu den einzelnen Texten, den üblichen Kommentaren zur Entstehung, den Sach- und Personenerläuterungen finden sich weitere, von der »Unvollendbarkeit des Gedichts« (Arendt) zeugende Fassungen und Arbeitsproben aus der schieren Fülle des überlieferten Arbeitsmaterials. Auf diese Weise sollen zugleich die Textgenese und die Arbeitsweise des Autors nachvollziehbar gemacht, und damit die von der Publikation der Einzelbände geschluckte Poetik des ›work in progress‹ wieder entfaltet werden. Im Anschluß an die Textapparate finden eine umfangreiche Biografie nach Lebensdaten sowie eine vollständige Bibliografie zu Erich Arendt ihren Platz.

Der Prosaband enthält neben für die Poetik Arendts aufschlußreichen Gesprächen, den Essays zu verschiedenen, von Arendt übersetzten und herausgegebenen Autoren (etwa Pablo Neruda, Rafael Alberti, Vicente Aleixandre, Saint-John Perse u.v.a.) auch seine Reiseessays, in denen sich sein für das Verständnis der Gedichte wichtiges Welt- und Geschichtsbild entfaltet.

Der Band mit Korrespondenzen (u.a. mit Rafael Alberti, Johannes R. Becher, Johannes Bobrowski, Paul Celan, Peter Huchel, Gregor Laschen, Ernst Meister, Heiner Müller, Pablo Neruda, Fritz J. Raddatz, Christa Wolf) dokumentiert die wache Zeitgenossenschaft des Autors und seinen Austausch mit wichtigen Figuren der Literatur und Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Der enge Zusammenhang zwischen Leben und Werk des Autors enthüllt auch hier viele den Gedichten zu Grunde liegende konkrete Erlebnisse.

Die ersten beiden Bände mit dem lyrischen Werk - darunter viele bisher nicht veröffentlichte Texte und Fragmente - sind im April 2003 erschienen, der kommentierte Prosaband ist für Herbst 2003 vorgesehen, der Briefband und die Apparatbände zu den Gedichten für 2004/2005. (Ein Sonderprospekt ist anzufordern beim Agora-Verlag, agora-verlag@gmx.de).

Martin Peschken, martin.peschken@gmx.de