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Alberto Manguel - Samuel Fischer-Gastprofessor im Sommersemester 2003

»Aber für mich (in meiner jugendlichen Arroganz) waren die Abende bei Borges nichts Außergewöhnliches, sie waren ein Teil der Bücherwelt, der ich mich ohnehin zugehörig fühlte«, schrieb Alberto Manguel in dem Essay Chez Borges über seine Erlebnisse zwischen den Jahren 1964 und 1968, als er Vorleser für den erblindeten Dichter war. Im Sommersemester 2003 griff der Schriftsteller als Samuel Fischer-Gastprofessor jene Erinnerungen auf, erforschte gemeinsam die Texte seines berühmten Landsmannes im Seminar Borges and the Transformation of Literature und entdeckte mit diesen andere Autoren sowie deren Texte.

Als Sohn eines argentinischen Diplomaten 1948 in Buenos Aires geboren, verbrachte Alberto Manguel seine Kindheit in verschiedenen Ländern, lernte zunächst die englische und später die spanische Sprache und ergötzte sich schon in frühester Kindheit an den Büchern, die ihm das Kindermädchen vorlas, ehe er selbst das Lesen für sich entdeckte. Nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft arbeitete er als Lektor, Kritiker und Übersetzer, stellte Anthologien mit Kurzgeschichten zusammen und schrieb Theaterstücke, Filmskripte und Essays. Er lebt heute als kanadischer Staatsbürger abwechselnd in Toronto, Paris und in einem kleinen Dorf im Westen Frankreichs.

In seinem wohl bekanntesten Buch, dem 1998 ins Deutsche übersetzten Essay Eine Geschichte des Lesens, befaßt er sich in einem intuitiven Durchgang durch die Jahrhunderte mit unzähligen Autoren und ihrem Verhältnis zum Lesen. Vor allem aber ist dieses Buch eine Kulturgeschichte des Lesens (leise und laut lesen, Buchdruck, Buchformate, Bibliotheken, Brille, Bilderbibeln in Kirchen usw.). Er schildert darin seine persönlichen Erfahrungen als Leser, denn die Literatur entsteht für ihn erst im Akt des Lesens und immer wieder neu.

Und hier schließt sich für Alberto Manguel der Kreis zu Borges, wenn er schreibt: »For Borges, literature exists in the eye of the reader«. Es hat fast den Anschein, als ob die häufigen Reflexionen über seine eigene Biographie in den Essays und in diversen Interviews, die er für Zeitungen und Zeitschriften gegeben hat, aus einer phantastischen Erzählung von Borges entlehnt seien – das Seminar bot die Möglichkeit, den Leser Alberto Manguel in den Geschichten von Borges wiederzuentdecken.

 

Publikationen

Essays:
  • A History of Reading.
    Toronto (Knopf) 1996,
    deutsch: Eine Geschichte des Lesens. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
    Berlin (Volk und Welt) 1998.

  • Into the Looking-Glass Wood. Essays on Words and the World.
    Toronto (Knopf) 1998,
    deutsch: Im Spiegelreich. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
    Berlin (Volk und Welt) 1999.

  • Reading Pictures. A History of Love and Hate.
    Toronto (Knopf) 2000.
    deutsch: Bilder lesen. Eine Geschichte der Liebe und des Hasses. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
    Berlin und München (Volk und Welt) 2001.

  • Chez Borges. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
    in: Neue Rundschau. Heft 4 (2002), S. 114-144,
    auch in: Jorge Luis Borges: Im Labyrinth. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Alberto Manguel.
    Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch) 2003.
 

Roman:
  • News From a Foreign Country Came.
    New York (Potter) 1991,
    deutsch: Im siebten Kreis. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
    Berlin (Volk und Welt) 1996.
 

Erzählung:
  • Stevenson unter Palmen. Eine Erzählung. Aus dem Englischen von Chris Hirte.
    Frankfurt am Main (S. Fischer) 2003.
 

Anthologien:
  • Black Water. The Book of Fantastic Literature.
    New York (Potter) 1983.

  • Other Fires. Short Fiction by Latin American Women.
    New York (Potter) 1985.

  • Evening Games. Tales of Parents and Children.
    New York (Potter) 1986.

  • Dark Arrows. Great Stories of Revenge.
    New York (Potter) 1987.

  • Black Water 2. More Tales of the Fantastic.
    Toronto (Lester & Orpen Dennys) 1990.

  • The Oxford Book of Canadian Ghost Stories.
    Toronto (Oxford University Press) 1990.

  • Canadian Mystery Stories.
    Toronto (Oxford University Press) 1991.

  • The Gates of Paradise. The Anthology of Erotic Short Fiction.
    Toronto (Macfarlane Walter & Ross) 1993.

  • In Another Part of the Forest. An Anthology of Gay Short Fiction. (zusammen mit Craig Stephenson).
    Toronto (Vintage) 1994.

  • The Second Gates of Paradise. The Anthology of Erotic Short Fiction.
    Toronto (Stoddart) 1997.

  • Mothers and Daughters. An Anthology.
    Vancouver (Raincoast) 1998.

  • Fathers and Sons. An Anthology.
    Vancouver (Raincoast) 1998.

  • The Ark in the Garden. Fables for Our Times.
    Toronto (Macfarlane Walter & Ross) 1998.

  • God’s Spies. Stories in Defiance of Oppression.
    Toronto (Macfarlane Walter & Ross) 1999.
 

Sonstiges:
  • The Dictionary of Imaginary Places. (zusammen mit Gianni Guadalupi).
    New York (Macmillan) 1980,
    deutsch: Von Atlantis bis Utopia. Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur.
    München (Christian) 1981.

  • Bride of Frankenstein. A BFI Film Classic.
    London (British Film Institute) 1997.

  • By the Light of the Glow-Worm Lamp. Three Centuries of Reflections on Nature.
    New York u.a. (Plenum Trade) 1998.

  • A Visit to the Dream Bookseller / Ein Besuch beim Traumbuchhändler. Übersetzt von Gabriele Haefs. (Text deutsch / englisch).
    Hamburg (Antiquariatsmesse) 1998.

  • Kipling. A Brief Biography for Young Adults.
    Calgary (Bayeux) 2000.

 

Informationen im World Wide Web

 

Medienecho

 

Bericht

Der in Argentinien geborene, in Israel aufgewachsene und nach Stationen in Italien, England und Tahiti seit einigen Jahren in Frankreich lebende kanadische Schriftsteller Alberto Manguel kam im Sommersemester 2003 als neunter Samuel Fischer-Gastprofessor für Literatur ans Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seine Vorgänger waren: Vladimir Sorokin (Rußland), V. Y  Mudimbe (Congo), Kenzaburo Oe (Japan), Scott Bradfield (USA), Sergio Ramírez (Nicaragua), Marlene Streeruwitz (Österreich), Robert Hass (USA) und Yann Martel (Kanada).

Alberto Manguel (Jahrgang 1948), der in englischer Sprache schreibt, ist Übersetzer (Marguerite Duras, Marguerite Yourcenar, Amin Maalouf, Federico Andahazi), Autor von Erzählliteratur (zuerst der Roman Im siebten Kreis, zuletzt die Erzählung Stevenson unter Palmen) und Herausgeber von Anthologien (The Dictionary of Imaginary Places, Gates of Paradise: The Anthology of Erotic Short Fiction, Buenos Aires: A Cultural and Literary Companion u.a.). Bekannt wurde Alberto Manguel vor allem als Essayist: Seine Geschichte des Lesens (1997) wurde ein weltweiter Bestseller. Es folgte der Band Bilder lesen (2000).

Das Lesen ist Alberto Manguels lebenslanges Leitmotiv. Als Jorge Luis Borges (1899-1986) zunehmend erblindete, hatte er dem großen argentinischen Schriftsteller zwischen 1964 und 1968 (als Sechzehn- bis Zwanzigjähriger) regelmäßig als Vorleser gedient. Seine Erinnerungen an Borges schildert Manguel in seinem Essay »Chez Borges« (übersetzt von Chris Hirte, in: Neue Rundschau. Heft 4 (2002), S. 114-144).

Im Seminar Borges and the Transformation of Literature näherte sich Alberto Manguel seinem Lieblingsautor von verschiedenen Seiten. Er skizzierte dessen Biographie, er entfaltete den historischen Hintergrund und beleuchtete den Kontext (bzw. Intertext) der argentinischen und hispanoamerikanischen Literatur, auf die sich Borges bezieht (z.B. José Hernández’ Martín Fierro und Domingo Sarmientos Facundo). Manguel präsentierte Schriftsteller und Werke, die für Borges (und für ihn selbst) eine wichtige Rolle spielen: Miguel de Cervantes, Heinrich Heine, Robert Louis Stevenson, Rudyard Kipling, Lewis Carroll, Joseph Conrad, Franz Kafka oder Chesterton. Manguel zeigte literarische Einflüsse auf Borges’ Werk auf: seine Lektüren der ‚Weltliteratur‘, aber auch seine Faszination für entlegene oder ‚Trivialliteratur‘.

Als Jugendlicher hatte Manguel den Schriftsteller Borges als Leser erlebt: wenn dieser die von ihm vorgelesenen Werke zwischendurch kommentierte und sich dabei in einer imaginären Privatbibliothek zu bewegen schien. Er habe hierbei gelernt, wie ein großer Autor liest, sagt Manguel. Von Borges lesen lernen, heißt: eklektisch lesen, den Kanon auflösen, Literatur ohne Chronologie, ohne Geschichte und ohne Nationalität wahrnehmen. Mit Begeisterung entfaltete Manguel vor seinen Zuhörern eine an Borges geschulte Ethik des Lesens: Der Leser erschafft seine eigene Welt, im Assoziationsraum seiner literarischen Vorlieben. Manguel spricht aus der Rolle des passionierten Lesers, des Connoisseurs, der seine Zuhörer durch seine persönliche Bibliothek führt, die ihren Charakter dem Kanon von Borges verdankt. Er erzählt, zitiert in zahlreichen Sprachen aus dem Gedächtnis, assoziiert und begibt sich auf Exkurse. Es treten auf: der junge Julio Cortázar, dessen erste Erzählung Borges in seiner Zeitschrift publizierte; oder die literarischen Erben von Borges: Italo Calvino, David Lodge, Cees Nooteboom – oder Umberto Eco (in dessen Der Name der Rose die offenbar nach Borges entworfene Figur eines blinden Bibliothekars auftaucht; der Titel wiederum ist einem Gedicht von Borges entlehnt).

In der Lektüre von Arbeiten wie »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius«, »Pierre Menard, Autor des Quijote«, »Das Aleph«, »Die Bibliothek von Babel« oder »Deutsches Requiem« wird Borges’ spielerischer Umgang mit literarischen Genres deutlich, seine systematische Auflösung der konventionellen Gattungen. Manguel führte seine Studenten durch philosophische Fragestellungen, die in Borges’ Texten ausgeleuchtet werden, und durch Borges’ Paradoxien (zum Beispiel das auf die Zeit übertragene berühmte Raum-Paradox Zenons). Er diskutierte die literarische Form der Fiktionen von Borges und analysierte beispielsweise deren phantastische Dimension. Manguel beschrieb Borges’ Sprache, etwa seinen Umgang mit Metaphern; sein Desinteresse für Historie und für Politik. Und er ließ Borges ganz persönlich lebendig werden: als Witzeerzähler.

Als Grundlage des Seminars diente eine Anthologie mit Texten von Jorge Luis Borges in deutscher Übersetzung, die Alberto Manguel herausgegeben hat (Im Labyrinth. Frankfurt am Main (S. Fischer) 2003).

Das Seminar von Alberto Manguel an der Freien Universität Berlin wurde ergänzt durch zahlreiche Veranstaltungen: durch einen Vortrag mit dem Titel »A Reader in the Library of Babel« in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn am 10. Juni 2003, eine Lesung aus Stevenson unter Palmen im Literaturhaus Frankfurt am 11. Juni 2003, einen Vortrag »A Library in the Shape of (the) Mind« im Antiquariat Pabel in Hamburg am 17. Juni 2003, ein Gespräch über »die Geschichte des Buches in Altertum und Zukunft«, unter dem Titel »Die Bibliothek von Robinson Crusoe«, an der Universität Marburg am 23. Juni 2003, einen Gastauftritt in einer Übung zur »Literaturkritik« an der FU Berlin am 25. Juni 2003, einen Vortrag »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«, veranstaltet vom Einstein Forum in den Neuen Kammern von Schloß Sanssouci in Potsdam am 26. Juni 2003, und schließlich, am 28. Juni 2003, eine Lesung aus der Erzählung Stevenson unter Palmen in der Schaubühne am Lehniner Platz, die in ein außergewöhnlich angeregtes Gespräch zwischen dem Schriftsteller und seinem Publikum einmündete.

Oliver Lubrich,
Berlin, 4. Juli 2003