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Nora Amin - Samuel Fischer-Gastprofessorin im Wintersemester 2004/2005

Daß man beim Schreiben auf äußere, bisweilen aber auch auf innere Widerstände stößt, sich mit ihnen auseinandersetzt und sie zu überwinden sucht, läßt sich an der neueren ägyptischen Literatur der sogenannten ›1990er‹ gut beobachten. »It takes a lot of courage just to be exposed on stage and in books«, schreibt Nora Amin in der Begrüßung auf ihrer Homepage über ihr Bestreben, sich durch die eigene Kunst selbst zu erfahren und zugleich die äußere Welt zu erforschen. Im Wintersemester 2004/2005 lädt sie als Samuel Fischer-Gastprofessorin im Rahmen des Seminars Modern and Contemporary Egyptian Literature: »Streams of Opposition« zu einer Entdeckungsreise ein, die vermutlich nicht frei sein wird von Widersprüchen.

1970 in Kairo geboren, studierte Nora Amin Französisch sowie Vergleichende Literaturwissenschaft und arbeitete danach neun Jahre als Assistentin an der dortigen Akademie der Künste. Neben Seminaren zum französischen Theater und Film sowie der Betreuung von Theater-Workshops übersetzte sie eine Reihe von englischen und französischen Texten ins Arabische, darunter vor allem Beiträge zum Internationalen Festival des experimentellen Theaters in Kairo. Als Regisseurin, Schauspielerin oder Tänzerin häufig selbst der Mittel- und Angriffspunkt öffentlicher Aufführungen, wurde sie unmittelbar mit den Vorurteilen und Tabus der arabischen Gesellschaft konfrontiert, insbesondere im Zusammenhang mit dem Rollenverständnis der Frau einerseits auf der Bühne des Theaters, andererseits im von Einschränkungen der persönlichen Freiheit geprägten Alltag.

Nora Amins aktiver Einspruch gegen diese Unterdrückung zeigt sich jedoch nicht ausschließlich in provokativen Aufführungen, sondern wird begleitet von der theoretischen Reflexion in zahlreichen Essays sowie internationalen Vorträgen und Workshops. Mit ihrer im Jahr 2000 gegründeten unabhängigen Theatergruppe »La Musica« beschreitet sie neue Wege abseits der eingelaufenen Pfade des staatlichen und des kommerziellen Theaters und sucht dabei nach Möglichkeiten zur Kooperation mit KünstlerInnen anderer Länder. Dasselbe Ziel verfolgt das von ihr initiierte internationale unabhängige Theaterfestival, das 2001 zum ersten Mal in Kairo stattfand und schon im Namen »Jadayel« (Verflechtungen) den Wunsch nach einem produktiven Erfahrungsaustausch bekundet.

Auch in den Romanen, Kurzgeschichten und Gedichten, die Nora Amin seit 1995 veröffentlichte und die bisher nur in kleineren Auszügen ins Englische, Italienische und Deutsche übersetzt wurden, ist die Suche nach neuen Ausdrucksformen zu erkennen. Ihre Literatur steht im Gegensatz zu den einfach und klar strukturierten, meist politisch oder religiös belehrenden Werken früherer Schriftsteller-Generationen. In der Sammlung Momente der Sympathie verknüpft sie geheimnisvoll 14 Liebesgeschichten, in ihrem ersten Roman Ein rosafarbenes Hemd schildert sie den Versuch einer alleinerziehenden Frau, die Trennung von ihrem Partner durch das Verfassen einer Geschichte über einen neuen Freund zu verarbeiten. Auf diese Weise bietet gerade das Schreiben die Möglichkeit, innere und äußere Widerstände anzusprechen und zu überwinden – und darüber wird im Seminar zu diskutieren sein, denn dieses Literaturverständnis scheint typisch zu sein für die Generation, der Nora Amin angehört.

Publikationen

Romane: Qamiis wardi farigh. (Ein rosafarbenes Hemd). Kairo (Sharkiyyat) 1997.
  • Al-Wafaah al-thaaniyah li-rajul al-saa’aat. (Der zweite Tod des Uhrenmannes).
    Kairo (Popular Culture Organism) 2000,
    2. Auflage, Kairo (Public Book Organism) 2003.

    Kurzgeschichten:
    • Gomal Eeteradeyya. (Einschübe).
      Kairo (Anglo-American Bookshop) 1995.

    • Toroquate Mohaddaba. (Gewölbte Straßen).
      Kairo (New Culture) 1996.

    • Halat Al Taa’tuf. (Momente der Sympathie).
      Kairo (Popular Culture Organism) 1998.

    • Alnesf Althaleth. (Die dritte Hälfte).
      Kairo (Merit) 2002.
     
    Theater: (aufgeführte Stücke, nicht im Druck publiziert)
    • The Text.
      Langgedicht / Tanzskript (Arabische und englische Fassung). 1998.

    • The Bermuda Triangle.
      Theaterstück (Arabische und englische Fassung). 1998.

    • Sem we Ghel. (Gift und Wut).
      Komödie für drei Schauspieler. 1999.

    • Koloh Tamam. (Alles in Ordnung).
      Musical. 1999.

    • The Box of our Lives.
      Schauspiel für zwei Schauspielerinnen (Arabische und englische Fassung). 2000.

    • The Trip to the Soul.
      Solo-Performance (Arabische und englische Fassung). 2001.

    • Love.
      Tanz-Parodie (Arabische und englische Fassung). 2001.

    • Message to my Father.
      Theaterstück nach dem Roman Der zweite Tod des Uhrenmannes (Arabische und englische Fassung). 2001.

    • Rice Cake.
      Solo-Performance (Arabische und englische Fassung). 2002.

    • Ambulance Car.
      Theaterstück (Arabische, französische und englische Fassung). 2002.

     
    Theatertheorie:
    • Fann al-mutaalabah bi-al-haqq. Al-masrah al-Misrii al-mu’aasir wa-huquuq al-insaan. (The Art of Claiming Rights. Egyptian Theatre and Human Rights).
      Kairo (Cairo Institute for Human Rights Studies) 2000.
     

    Drehbücher:
    • Heliopolis.
      Tanz-Kurzfilm über einen ägyptischen Tänzer (Arabisch, mit englischen Untertiteln). Ägyptisches Fernsehen und TV 5 (Frankreich) 2001.

    • Cutting Through the Soul.
      Experimenteller Dokumentarfilm über die Stadt Kairo (Arabisch und englisch). Ägyptisches Fernsehen 2002.

    • The Body.
      Experimenteller Dokumentarfilm über den weiblichen Körper (Englisch). The Swedish Fine Arts College 2003.

    • Space Within.
      Experimenteller Kurzfilm. Drehbuch und Regie: Nora Amin, in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Photographen Meg Kowalski. USA 2003.

     

    Dokumentation:
    • Portraits.
      Einstündige Dokumentation über ägyptische Schriftstellerinnen (Arabisch, mit englischen Untertiteln). 2000.

     

    Übersetzungen: (aus dem Französischen und Englischen ins Arabische)
    • Übersetzungen für das Internationale Festival für experimentelles Theater in Kairo:
      • Denis Bablet und Jean Jacquot (Hg.): Le lieu théâtral dans la société moderne. 1963 (1993).
      • Jean Duvignaud und Jean Lagoutte: Le théâtre contemporain. Culture et contre-culture. 1974 (1994).
      • George Banu (Hrsg.): Yannis Kokkos, le scénographe et le héron. 1989 (1994).
      • Jean Jacquot (Hrsg.): Les théâtres d’Asie. 1968 (1995).
      • (zusammen mit anderen): Anne Ubersfeld: L’école du spectateur. 1981 (1996).
      • Augusto Boal: Méthode Boal de théâtre et de thérapie. L’arc en ciel du désir. 1990 (1997).
      • Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien. 1773 (1998).
      • Marguerite Duras: La musica deuxième. 1985 (1999).
      • Marguerite Duras: L’amante anglaise. 1967 (1999).
      • Emmanuelle Loyer: Le théâtre citoyen de Jean Vilar. Une utopie d’après-guerre. 1997 (2000).


    • Übersetzungen für das ägyptische Kulturministerium:
      • (zusammen mit anderen): Our Creative Diversity. Report of the World Commission on Culture and Development (UNESCO and United Nations). 1995 (1997).
      • Roland Robertson: Globalization. Social Theory and Global Culture. 1992 (1998).
      • Roger Garaudy: Souviens-toi! Brève histoire de l’Union soviétique. 1994 (1998).
      • Ali Abo Shady: Tareekh Alcinema Almasreryya. (aus dem Arabischen ins Englische: A Chronolgy of the Egyptian Cinema). 1998 (2000).

 

Bericht

 

Die ägyptische Schriftstellerin Nora Amin lehrte im Wintersemester 2004/05 als zwölfte »Samuel Fischer-Gastprofessorin für Literatur« am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL) der Freien Universität Berlin. Ihre Vorgänger waren: Vladimir Sorokin (Rußland), V. Y. Mudimbe (Kongo), Kenzaburo Oe (Japan), Scott Bradfield (USA), Sergio Ramírez (Nikaragua), Marlene Streeruwitz (Österreich), Robert Hass (USA), Yann Martel (Kanada), Alberto Manguel (Argentinien/Kanada), Etgar Keret (Israel) und Feridun Zaimoglu (Türkei/Deutschland).

 

Nora Amin, geboren 1970 in Kairo, ist Schauspielerin und Regisseurin, Literaturwissenschaftlerin und Essayistin sowie Autorin von Romanen, Kurzgeschichten, Theaterstücken, Gedichten und Drehbüchern. Früher arbeitete sie überdies als Tänzerin und als Übersetzerin. An der Universität Kairo studierte sie Französisch und Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie begründete die private Kairoer Theatergruppe »La Musica« und initiierte das erste unabhängige internationale Theaterfestival Ägyptens, »Jadael«. Nora Amin stellte ihre Performances in zahlreichen Ländern vor und arbeitete mit Schauspielern und Regisseuren unter anderem aus den USA, England, den Niederlanden und Zypern zusammen. Sie veröffentlichte bereits mehr als 20 Bücher. Verschiedene Arbeiten sind ins Englische und Italienische übersetzt. In ihrem literarischen Werk setzt sie sich insbesondere mit der Rolle der Frau in der arabischen Gesellschaft auseinander.

 

Zu Nora Amins erzählerischen Werken gehören (im Original in arabischer Sprache) die Kurzgeschichten-Sammlungen Parenthetical Phrases (1995), Convex Roads (1995), Episodes of Sympathy (1998) und The Third Half (2002) sowie die Romane An Empty Pink Shirt (1997) und The Second Death of the Man of the Watches (2000). Als Sachbuchautorin verfaßte sie die erste ägyptische Studie über das Thema Theater und Menschenrechte, The Egyptian theatre & Human rights: The art of claiming our right (2000). Das Werk bildete die Grundlage für eine Vortragsreihe der Autorin in den USA, am Smith College der Massachussets University in Amherst, über »The Politics of Contemporary Egyptian Theatre« (April 2002).

 

Nora Amin übertrug Sachtexte und literarische Werke aus dem Französischen und Englischen ins Arabische: die Essaybände The Theatrical Space (1993), Yannis Kokkos & Scenography (1994) und The Theatres of Asia (1995); The Contemporary Theatre: Culture and Counter Culture von Jean Duvignaud und Jean Lagoutte (1994); The School of the Spectator von Ann Ubersfeld (Gemeinschaftsübersetzung, 1996); The Method of Augusto Boal (1997); A Chronolgy of the Egyptian Cinema von Aly Abo Shady (1998); The Brief History of the Ex-Soviet Union von Roger Garaudy (1998) sowie den UNESCO-Bericht The Human Creative Diversity (Gemeinschaftsübersetzung, 1997); Globalization: The Social Theory and The Universal Culture (1998) und Jean Vilars The Theatre of the Citizen (2000); des weiteren Denis Diderots The Paradox of the Comedian (1998) und Two Plays by Marguerite Duras: ›La musica deuxième‹ & ›L’amante anglaise‹ (1999).

 

Nora Amin schrieb Drehbücher für den experimentellen Kurzfilm Space Within, bei dem sie auch Regie führte (in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Photographen Meg Kowalski, USA 2003); für die experimentellen Dokumentarfilme The Body, über den weiblichen Körper (The Swedish Fine Arts College 2003); Cutting Through the Soul, über die Stadt Kairo (ägyptisches Fernsehen 2002); Heliopolis, über einen ägyptischen Tänzer (TV 5 und ägyptisches Fernsehen 2001) sowie Portraits, über ägyptische Schriftstellerinnen (in der Regie von Alia el Bialy, 2001).

 

Ihre Theaterstücke werden aufgeführt, einige auch in englischen Fassungen: The Bermuda Triangle (1998); das Langgedicht und Tanzskript The Text (1998); Poison & Rage, eine Komödie für drei Schauspieler (1999); das Musical All is OK (1999); The Box of our Lives, ein Spiel für zwei Schauspielerinnen (2000); die Solo-Performances The Trip to the Soul (2001) und Rice Cake (2002); die Tanz-Parodie love (2001); Message to My Father, nach Nora Amins Roman The Second Death of the Man of the Watches (2001); sowie Ambulance Car (2002). In Berlin zeigte Nora Amin bei verschiedenen Anlässen Videos ihrer filmischen Arbeiten und Aufzeichnungen eigener Auftritte. Und sie präsentierte ihre neue englischsprachige Solo-Show, Arab.

 

Ihre Lehrveranstaltung am Institut für AVL gestaltete Nora Amin als Seminar. Um den Kurs für Studierende aller Fächer sowie für interessierte Besucher zugänglich zu machen, gab sie zunächst einen Überblick über die Geschichte, geographische Gliederung und gesellschaftliche Struktur ihres Landes sowie eine Einführung in die zeitgenössische Kultur und Politik Ägyptens.

 

Unter dem Titel »Streams of Opposition« präsentierte Nora Amin ihren Zuhörern die wichtigsten Tendenzen der zeitgenössischen ägyptischen Literatur, insbesondere der sogenannten »Generation der neunziger Jahre«. Sie analysierte deren literarische Strukturen, Metaphern und Stile sowie Motive, Inhalte und politische Positionen. Und sie setzte die Romane und Kurzgeschichten der neunziger Jahre in Bezug zu denen der Sechziger, Siebziger und Achtziger. Im Mittelpunkt stand das aktuelle »New Writing«, vor allem weiblicher Autoren, deren repräsentative Beiträge Amin in Übersetzungen zur Diskussion stellte. Neben eigenen Arbeiten behandelte Nora Amin mit den Teinehmern Texte von Latifa el Zayyat, May Telmissany, Youssef Idris, Montasser el Qaffash, Mahmoud El Werdany, Somayya Ramadan, Mostafa Zekry, Radwa Ashour, Naguib Mahfouz, Mohamed El Bosaty und Ibrahim Aslan. Verschiedene literaturwissenschaftliche Artikel über die ägyptische Literatur der neunziger Jahre wurden in die Arbeit einbezogen. Ergänzend zeigte die Dozentin einen Dokumentarfilm über ägyptische Schriftstellerinnen, Portraits (zu dem sie das Drehbuch schrieb), sowie ihre Arbeiten Space Within und The Body.

 

Als traditionelle Ergänzung des Seminars der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur an der Freien Universität Berlin fanden einige öffentliche Veranstaltungen statt: Am 26. Oktober 2004 wurde Nora Amin am Institut für AVL in Form einer öffentlichen Lesung und Vorführung von Videoarbeiten sowie einem Podiumsgespräch mit Oliver Lubrich vorgestellt. Am 13. Januar 2005 präsentierte Nora Amin ihre Solo-Performance Arab in der Probebühne der Berliner Schaubühne und führte ein Gespräch mit Hans Jürgen Balmes. Am 20. Januar 2005 las die Samuel Fischer-Gastprofessorin in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Und am 27. Januar 2005 trat sie im Deutschen Nationaltheater in Weimar auf.

 

Darüber hinaus nahm Nora Amin am 2. Oktober 2004 im Rahmen des internationalen Symposiums »Orient and Occident – A New Beginning« zum Schwerpunkt ›Arabische Welt‹ der diesjährigen Frankfurter Buchmesse an einer Podiumsdiskussion zum Thema »What do we expect of each other?« teil. Mit dabei waren die Schriftsteller Sahar Khalifa (Palästina), Najwa Barakat (Beirut/Paris), Habib Tengour (Algerien/Paris), Boualem Sansal (Algerien), Ilija Trojanow (Deutschland), Martin Mosebach (Deutschland) und Michael Kleeberg (Deutschland) sowie der Politiker Daniel Cohn-Bendit (Deutschland/Frankreich). Am 18. Dezember 2004 gab Nora Amin gemeinsam mit dem Schweizer Lyriker Raphael Urweider eine Lesung unter dem Motto »Face Time. Art & Poetry« in der Berliner Galerie Marianne Grob. Zusammen mit den Autorinnen Melanie Rose und Andrea Gerster war sie am 15. Januar 2005 im Kultur Cinema in Arbon (Schweiz). Am 5. Februar 2005 stellte Amin ihr Programm Arab im Kulturzentrum ZAK in Danzig vor. Am 10. Februar 2005 trat sie beim Institut für Postkoloniale und Transkulturelle Studien in Bremen auf. Eine in Zusammenarbeit mit der ägyptischen Botschaft geplante abschließende Veranstaltung wurde durch den Botschafter kurzfristig abgesagt.

 

Oliver Lubrich,

19. März 2005