Kenzaburo Oe - Samuel Fischer-Gastprofessor im Wintersemester 1999/2000
Als nach Vladimir Sorokin und V. Y. Mudimbe dritter Samuel Fischer-Gastprofessor für Literatur gab der japanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger von 1994, Kenzaburo Oe im Wintersemester 1999/2000 am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin ein Seminar mit dem Titel Kenzaburo Oe – A Japanese Writer’s Reality.
Kurzvita
- geboren am 31. Januar 1935 in dem Dorf Ose auf der Insel Shikoku, Japan
- 1954 Studium der Französischen Literatur in Tokio, Examensarbeit: Über das Image bei Sartre
- 1960 Mit-Begründer der Wakai Nihon no kai (Gruppe Junges Japan) – Proteste gegen den japanisch-amerikanischen Sicherheitsvertrag und gegen die Wiederbewaffnung
- 1994 Nobelpreis für Literatur
Publikationen
(in deutscher Übersetzung lieferbare Titel) Erzählungen:- Der Fang. Erzählung.
- Stolz der Toten. Erzählung.
- Und plötzlich stumm. Erzählung.
- Der kluge Regenbaum. Vier Erzählungen.
- Eine persönliche Erfahrung. Roman.
- Reißt die Knospen ab ... Roman.
- Der stumme Schrei. Roman.
- Verwandte des Lebens. Roman.
- Der Tag, an dem Er selbst mir die Tränen abgewischt. Roman.
- Stille Tage. Roman.
- Therapiestation. Roman.
Briefwechsel:
- Gestern, vor 50 Jahren. Ein deutsch-japanischer Briefwechsel mit Günter Grass.
Medienecho
- November / Dezember 1999, »FU-Nachrichten«:
Felicitas von Aretin: »›Poetische Groteske‹ – Kenzaburo Oe ist Samuel-Fischer-Gastprofessor an der FU«.
http://www.fu-berlin.de/fun/1999/11-12-99/leute/leute1.html. - 18. November 1999, »Berliner Zeitung«:
Marco Stahlhut: »›Absurde Existenz‹ – Kenzaburô Ôe ist Samuel-Fischer-Gastprofessor an der FU«.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/
.bin/dump.fcgi/1999/1118/feuilleton/0052/index.html. - 25. November 1999, »Der Tagesspiegel«:
o.A.: »›Freiheit gibt es nur am Rand‹ – Der japanische Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburo Oe im Interview mit dem Tagesspiegel. Ein Gespräch über die Faszination Europas, das politische Gewissen und seine Gastprofessur in Berlin«.
http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/24.11.1999/ak-ku-li-34942.html. - 25. November 1999, »Berliner Zeitung«:
Cornelia Geissler: »›Ein sauberes Nest ist mir natürlich lieber‹ – Kenzaburo Oe über Japan und eigene Pläne in Berlin«.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/
.bin/dump.fcgi/1999/1125/feuilleton/0045/index.html. - 25. November 1999, »Berliner Morgenpost«:
Friederike Kemperdick: »Literaturnobelpreisträger Oe vergibt Seminarscheine«. - 25. November 1999, »Die Welt«:
Dorothea von Törne: »›Der Literaturnobelpreisträger, der nicht nur Japan schockt‹ – Kenzaburo Oe liest im Haus der Kulturen der Welt«.
http://www.welt.de/daten/1999/11/25/1125b05139633.htx. - 27. November 1999, »Berliner Zeitung«:
Cornelia Geissler: »›Die Pflicht des Schriftstellers‹ – Vortrag Kenzaburo Ôes im Berliner Haus der Kulturen der Welt«.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/
.bin/dump.fcgi/1999/1127/feuilleton/0063/index.html. - 4. Dezember 1999, »Berliner Morgenpost«:
Volker Blech: »›Ich bin ein einsamer Mensch‹ – Philosophie des Kulturschocks. Der japanische Autor Kenzaburô Oê genießt das intellektuelle Leben in Berlin«. - 7. Dezember 1999, »Die Welt«:
Hans-Jörg von Jena: »Kenzaburo Oes Angst vor den neuen Rattenfänger«.
http://www.welt.de/daten/1999/12/07/1207b05141418.htx. - 22. Januar 2000, »Die Welt«:
Gernot Wolfram: »Japans Don Quichotte: ein Seminar mit Kenzaburo Oe«.
http://www.welt.de/daten/2000/01/22/0122b05148331.htx. - Nr. 1 (2000), »DAAD LETTER«:
o. A.: »›Keine Rebellen‹ – Gespräch mit dem japanischen Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe am Ende seines Semesters als Gastprofessor in Berlin«. - Februar 2000, »JDZB-ECHO 50«:
Tawada Yôko: »Gespräch über Literatur und Literaturtheorie mit Ôe Kenzaburô, 24. Januar 2000«. - 1. Februar 2000, »Die Welt«:
Cornelia Dörries: »›Arrival at an Important Turning Point in Life‹ – Nobel laureate Kenzaburo Oe, who is teaching at the Free University, turned 65 yesterday«.
Bericht
Das Blickfeld des Seminars von Herrn Oe war ein überaus weites: Es umfaßte Aspekte der Geschichte und Kulturgeschichte sowie der zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Situation Japans ebenso wie das literarische Werk und den kreativen Schaffensprozeß sowie das politische Engagement des Schriftstellers Kenzaburo Oe.
Im einzelnen wurden – unter anderem – folgende Themenblöcke behandelt:
- Im Sinne einer politischen und kulturhistorischen Einführung thematisierte Kenzaburo Oe zunächst (unter Zugrundelegung seines veröffentlichten Briefwechsels mit dem japanisch-amerikanischen Historiker Tetsuo Najita) die Genese des modernen Japan in den vergangenen vier Jahrhunderten: die Meiji Restauration, die Kaufmannsakademie von Osaka, die Koinzidenz von Konfuzianismus und Liberalismus, die Abschottung Japans gegen ausländische Einflüsse und den kontrollierten Import europäischen, ›westlichen‹ Denkens, kurz: die rasante und widersprüchliche Modernisierung des Landes.
- Anhand seiner (in der »New York Times« publizierten) Erzählung The Day The Emperor Spoke In A Human Voice schilderte Herr Oe seine persönliche Erfahrung der japanischen Kapitulation 1945: Als Schüler war Oe ganz im Sinne der autoritär-nationalistischen Tenno-Ideologie erzogen worden. Seine Lehrer schlugen ihn, wenn er auf die Frage »Was würdest du tun, wenn der Kaiser von dir verlangt zu sterben?« zögerlich reagierte. Als Zehnjähriger hörte Oe im Radio zum ersten Mal die menschliche Stimme des Kaisers Hihorito, der bis dahin für einen Gott gehalten worden war und nun die Kapitulation verkündete, indem er erklärte: »Wir haben verloren und müssen weiterleben.« – Ein chinesischer Teilnehmer des Seminars berichtete, das einzige, was seine Mutter ihm jemals über die japanische Besatzungszeit in Shanghai erzählt habe, sei eben dieser Moment gewesen: Wie die Ansprache des Kaisers im Radio übertragen wurde, woraufhin die japanischen Soldaten in Tränen ausbrachen und von den unterdrückten Chinesen so zum ersten Mal als Menschen wahrgenommen wurden. – Ausgehend von dieser persönlichen Erinnerung kritisierte Oe das Tenno-System und wandte sich gegen einen neuerwachten japanischen Nationalismus, der zur Zeit den Versuch unternehme, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die USA eingeführte demokratische Verfassung Japans (in der dem Kaiser nur noch eine ›symbolische‹ Funktion zukommt) abzuschaffen.
- Im Hinblick auf einen an der Harvard University gehaltenen Vortrag, »These Fifty Years And My Literature« setzte Kenzaburo Oe seine politischen Überlegungen fort, indem er das Jahr 1968 und die japanische Studentenbewegung einerseits sowie den Putschversuch und Selbstmord des reaktionär-ästhetizistischen Schriftstellers Mishima andererseits erörterte. Im Zentrum dieser Überlegungen stand die Frage: Warum blieb die 68er Bewegung, die in Japan keineswegs weniger radikal oder weniger massiv war als in Europa und in den Vereinigten Staaten, hier beinahe ohne jede mittel- und langfristige Auswirkung?
- Herr Oe las schließlich Auszüge aus dem Roman Reißt die Knospen ab ..., den er bereits als 23-Jähriger veröffentlicht hatte. Am Ende des Seminars trug Kenzaburo Oe eine Passage aus seiner Nobelpreisrede von 1994 vor, in der er die ›märchenhafte‹ Entdeckung der musischen Begabung seines schwer behinderten Sohnes Hikari beschrieb. Zum Abschluß hörten die Studenten und ihr Gastprofessor gemeinsam Auszüge aus dem kompositorischen Werk von Hikari Oe.
Wiederholt bezog sich Kenzaburo Oe im Laufe der Seminar-Sitzungen auf konkrete Erfahrungen mit seiner Familie, die erkennbar auch in seinen Romanen eine zentrale Rolle spielt: die liebevoll-resolute Mutter, die ihn zu unabhängigem Denken erzog und ihm die Literatur nahebrachte; den nationalistischen Vater; die politisch radikale Schwester, die ihren Bruder auf einer Demonstration über Megaphon als ›Nachkriegsdemokraten‹ verspottete; den als Polizist in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens engagierten jüngeren Bruder; den geistig behinderten, als Komponist erfolgreichen ältesten Sohn Hikari; den jüngeren Sohn, der – wie Oe sarkastisch berichtete – eine landwirtschaftliche Karriere einschlug, da rechtsradikale anonyme Anrufer den berühmten Vater als ›Ernte-Schädling‹ (in etwa: ›Nestbeschmutzer‹) beschimpft hatten; die Tochter; die Ehefrau; und schließlich den besten Freund und Schwager, Juzo Itami, Regisseur des Spielfilms Tampopo, der erst unlängst Selbstmord beging.
Durch charmant und selbstironisch eingestreute Anekdoten vollbrachte es Kenzaburo Oe immer wieder, seine Zuhörer nicht nur intellektuell zu begeistern, sondern auch menschlich zu faszinieren: So berichtete er beispielsweise, wie ihn seine Mutter nach der Verleihung des Nobelpreises bei einem Vortrag in der Grundschule seines Heimatdorfes auf der Insel Shikoku öffentlich korrigierte, als er beim Schreiben des Namens eines japanischen Philosophen an die Tafel des Klassenzimmers eine orthographische Unsicherheit zeigte (»Kenzaburo, du bist jetzt schon 60 und weißt immer noch nicht ...«) und wie ihn die Kinder des Dorfes darauf an den nächsten Tagen in der Straße sanft verspotteten. – Oder wie ihn der Yakuza-Chef der Heimatinsel versehentlich für einen Kollegen hielt ...
Das Seminar Kenzaburo Oe – A Japanese Writer’s Reality als Kernstück der Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur wurde ergänzt durch eine Reihe zusätzlicher Veranstaltungen: Bereits im Vorfeld erteilte der an der FU lehrende Japanologe Hiroomi Fukuzawa den Studenten eine »Einführung in die neuere japanische Literatur und in das Werk von Kenzaburo Oe« (9. November 1999). Eine Begrüßungs-Veranstaltung, die Herrn Oe als Samuel Fischer-Gastprofessor für Literatur der Studentenschaft und den Dozenten des Instituts für AVL vorstellte, fand in Form eines Gespräches zwischen Herrn Oe und dem Gastgeber, Prof. Gert Mattenklott, mit auszugsweiser Lesung – aus: Die Brüder Nedokoro – statt (23. November 1999). In einer großen Publikums-Veranstaltung im Haus der Kulturen der Welt hielt Kenzaburo Oe einen Vortrag über »Die kulturelle Situation im heutigen Japan« und diskutierte mit dem Münchener Jananologen Prof. Peter Pörtner (25. November 1999). Herr Oe hielt einen weiteren Vortrag über die Frage »Japan und Europa. Zwei Kulturen im Wettstreit?« im Rahmen der Berliner Lektionen im Renaissance-Theater (5. Dezember 1999). In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Literaturforschung führten Yoko Tawada und Wolfgang Kissel ein öffentliches Gespräch mit dem Nobelpreisträger über Literatur und Literaturtheorie im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin (24. Januar 2000). Am 27. Januar 2000 präsentierte Herr Oe im Ostasiatischen Seminar der Freien Universität einen Vortrag mit dem Titel »Japan im Wandel?« Am 29. Januar, 5. Februar und 12. Februar 2000 hielt er ebendort mit Studenten der Japanologie ein Kurzseminar über seinen Roman Reißt die Knospen ab .... In der Akademie der Künste las der S. Fischer-Gastprofessor aus seinem Roman Grüner Baum in Flammen, der demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen wird, und diskutierte mit Gert Mattenklott und dem Akademie-Präsidenten György Konrád (2. Februar 2000).
Kenzaburo Oe nahm teil an den Feierlichkeiten zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin an Salman Rushdie (25. November 1999) und traf mit dem Literaturnobelpreisträger von 1999, Günter Grass anläßlich von dessen Lesung in der Akademie der Künste zusammen (26. November 1999). Während seines Berlin-Aufenthaltes begann Kenzaburo Oe die Arbeit an einem neuen Roman.
Herrn Oes Samuel Fischer-Gastprofessur für Literatur war Gegenstand einer umfassenden regionalen, nationalen und internationalen Medienberichterstattung (Print, Radio, TV).
Oliver Lubrich