Tomas Venclova
Der litauische Dichter, Essayist und Übersetzer Tomas Venclova lehrte im Sommersemester 2010 als Samuel Fischer Gastprofessor an der Freien Universität Berlin.
Sein Seminar »Joseph Brodsky: His Poetics in the Context of His Era« fand ab 15. April 2010 donnerstags von 16.00 bis 18.00 Uhr in der Habelschwerdter Allee 45 in Raum L113 am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin statt.
Tomas Venclova, geboren 1937 in Klaipeda, zählt zu den wichtigsten osteuropäischen Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Venclova studierte Philologie in Vilnius und lebte anschließend in Moskau und Leningrad. 1977 verließ er nach mehrjährigem Publikationsverbot die UdSSR, um eine Gastdozentur an der Universität Berkeley anzutreten. In dieser Zeit wurde ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt. Sein Werk entstand zum größten Teil im amerikanischen Exil. Venclovas Übersetzer, der Autor und Essayist Durs Grünbein, bezeichnet dessen Gedichte begeistert als "das Unzeitgemäßeste, was die zeitgenössische europäische Poesie zu bieten hat". Venclova setzt sich in seinem Schaffen mit der verlorenen Heimat auseinander, zudem mit den Naturbildern der Landschaft und der Sprache, die ihm die Möglichkeiten zu einer bedeutenden und in ihrer Tiefe betörenden Lyrik verschafft.Er lehrt russische Literatur in Yale und im Sommersemester 2010 am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
»Venclovas Lied beginnt dort, wo die Stimme sonst gewöhnlich abbricht, sich verausgabt hat und wo alle seelischen Kräfte erschöpft sind.« (Joseph Brodsky)
Bericht
Tomas Venclova ist einer der bedeutendsten Lyriker und Essayisten Osteuropas. Infolge eines Publikationsverbots verließ er in den siebziger Jahren die Sowjetunion und lebte in den USA im Exil. Dort entstand ein Großteil seiner Werke – zum Beispiel der Gedichtband The Junction (1997/2008), die Essaysammlung Forms of Hope (1999), das Städteportrait Vilnius, das auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erschien (2006), sowie Gespräch im Winter. Gedichte, ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlicht, in der Übersetzung von Claudia Sinnig und Durs Grünbein (2007). Als Professor für russische und osteuropäische Literatur lehrt Tomas Venclova an der Yale University.
In seinem Berliner Seminar über „Joseph Brodsky: His Poetics in the Context of His Era“ behandelte Tomas Venclova den russischen Dichterkollegen Joseph Brodsky (1940–1996, 1972 emigriert) und die selbstpublizierte Untergrund-Literatur in der Sowjetunion, ‘Samisdat’. Venclova gestaltete seine Lehrveranstaltung als Vorlesungsreihe mit jeweils anschließenden Fragen. Dabei griff der emigrierte Dichter gelegentlich auf sein Tagebuch zurück, um Einträge zu Gesprächen mit Joseph Brodsky oder Erinnerungen an Boris Pasternak vorzutragen.
Venclova führte seine Studenten ein in die russische Literaturgeschichte: in das “Goldene“ und das „Silberne Zeitalter“ der russischen Dichtung sowie in historische Vorläufer der ‘Samisdat’-Literatur, die im 18. und 19. Jahrhundert unter vergleichbaren Zensur-Bedingungen entstanden (etwa politische oder erotische Literatur). Und er übte mit ihnen die Kunst der genauen Gedichtanalyse – im Hinblick auf Klangmuster, Bildstrukturen etc.
Tomas Venclovas Auffassung von der besonderen Qualität der litauischen Sprache – deren Sonderstellung er betonte und die er mit dem Sanskrit und mit dem Lateinischen verglich – kam besonders bei seinen Lesungen zur Geltung, die seine Samuel Fischer Gastprofessur ergänzten. Im Vortrag in der Originalsprache werden die eigentümlichen rhythmischen und lautlichen Eigenschaften von Venclovas Lyrik deutlich, deren Metrik und Klang geradezu klassisch wirken.
In einer öffentlichen Veranstaltung am 26. Mai 2010 las Tomas Venclova an der Freien Universität aus seinem Gedichtband The Junction und führte ein Gespräch mit Prof. Georg Witte.
Am 14. Juni 2010 trug Tomas Venclova anläßlich der Ausstellung »Fokus Litauen – Meisterwerke der Schwarz-Weiß-Fotografie seit 1960« im Stadtmuseum Münster ausgewählte Gedichte über litauische Orte und Landschaften vor, die durch Photographie und Malerei inspiriert worden sind.
Am 9. Juli 2010 schließlich las und diskutierte Tomas Venclova mit seinen Übersetzern Claudia Sinnig und Durs Grünbein in Berlin Mitte im Kino Babylon. – Ein Bericht erschien im Magazin »Campus Leben« der Freien Universität Berlin.
Oliver Lubrich