Zur Forschung ins Heilbad. Internationales Forschungsprojekt untersucht die gesellschaftliche Bedeutung des Kurorts
FU-Pressemitteilung Nr. 169/2019 vom 12.06.2019
Ein Wissenschaftsteam der Universitäten Amsterdam und Lund, der Queen Mary University in London und der Freien Universität Berlin startet ein Projekt zum Kurort als Ort transnationaler Begegnung und Debatte. An der Freien Universität Berlin ist das Vorhaben am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft angesiedelt. Finanziert wird das Projekt mit dem Titel „Der europäische Kurort als transnationaler öffentlicher Raum und soziale Metapher” durch das europäische Forschungsnetzwerk HERA (Humanities in the European Research Area). Die Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler Wiebke Kolbe, Henrike Schmidt, Astrid Köhler und Christian Noack arbeiten dafür mit Akteurinnen und Akteuren aus der Praxis in einer Vielzahl europäischer Länder zusammen.
News vom 13.06.2019
Mit einem Budget von 20 Millionen Euro fördert das Forschungsnetzwerk HERA in seiner aktuellen Programmlinie 20 Forscherteams, die neue Einsichten in Entstehung und Funktion öffentlicher Räume (public spaces) als Voraussetzung für gesellschaftliche Kommunikation gewinnen sollen. Das Projekt zum europäischen Kurort ist mit rund einer Million Euro ausgestattet. Von deutscher Seite wird es durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung getragen.
Kurorte waren immer Orte, an denen politische und soziale Grenzen und Normen ausgetestet und überschritten werden. Kurorte sind Katalysatoren des modernen Tourismus, haben zur Verbreitung einer neuen Konsumkultur in Europa beigetragen und den Austausch von neuen Waren und Ideen stimuliert. Therapie, Erholung, Konsum und sozialer Austausch verschmelzen und bilden eine spezifische „Kurort-Kultur“ aus.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Kuraufenthalt von einem Privileg der adeligen und bürgerlichen Gesellschaft zu einem Massenphänomen. Das traditionelle Heilbad mit seinen Mineralquellen bringt jüngere Entwicklungen wie die Seebäder oder den Luftkurort hervor. Die Einführung des Wohlfahrtsstaats, bezahlten Urlaubs und eines Gesundheitsversicherungssystems tragen zum Wachstum der Wohlfühl-Industrien bei.
Der Kurort wird zum temporären Treffpunkt für Menschen verschiedener Klassen, Nationen, Ethnien und Kulturen, deren Wege sich sonst kaum kreuzen würden. So kann er als Metapher für Europa im Ganzen angesehen werden, von manchen als Utopie gepriesen, von anderen als dekadent verteufelt. Als so widersprüchlicher Sehnsuchtsort wird er in Romanen und Filmen – von Thomas Mann, Anton Tschechow, Dubravka Ugrešić oder Milan Kundera, von Alain Resnais und Nikita Michalkov – populär in Szene gesetzt. Neben historischen ‚Quellen’ gehörten Kurort-Romane und -filme deshalb auch zum Untersuchungsmaterial.
Ziel des Projekts ist es, den Kurort neu zu konzeptualisieren – als zentrales Konzept und Ort europäischer Debatten. Es soll untersucht werden, wie sich der öffentliche Raum des Kurorts mit seinen charakteristischen Institutionen des Kurparks, Sanatoriums, Grand Hotels und Casinos als Bühne für die Aushandlung politischer, sozialer und kultureller Anliegen von europäischer Relevanz entwickelte; und wann sich die Institution Kurort als transnationaler Ort verändert oder auflöst, unter dem Druck nationaler und ideologischer Spaltungen des Kontinents. Nicht zuletzt stellen die Forscherinnen und Forscher die Frage, wie Kurorte heute als kulturelles Erbe funktionieren, zwischen Nostalgie und Wellness-Boom.
Bis dato konzentriert sich die Forschung zum Thema primär auf die historische Entwicklung. So existiert bis heute keine detaillierte empirische Studie, die sich dem Phänomen in seinem europaweiten Charakter und den damit verbundenen kulturellen Praktiken widmet. Der Leiter des Forschungsteams Christian Noack von der Universität Amsterdam erklärt: „Dank der HERA-Förderung können wir die nationale und disziplinäre ‚Kirchturmpolitik’ überwinden und europäische Kurortgeschichte mit einem genuin transnationalen und interdisziplinären Ansatz betreiben.“
Das Projekt vertritt einen multidisziplinären Ansatz; es verbindet Geschichts- und Literaturwissenschaften mit den Herangehensweisen der Digital Humanities. So wird datenbasiert die europäische Bäderlandschaft kartiert. Gearbeitet wird mit Quellen in rund einem Dutzend europäischer Sprachen. Die Laufzeit beträgt drei Jahre.
Die HERA-Förderlinie unterstützt innovative Formate des Wissenschaftstransfers. Neben der traditionellen Monographie gestalten die Forscherinnen und der Forscher in Kooperation mit den beteiligten Kurort-Museen eine „reisende Ausstellung“, die in Deutschland, England, Polen und Kroatien gezeigt wird.
Kontakt:
- Dr. Christian Noack (Projektleitung), University of Amsterdam, E-Mail: C.U.Noack@uva.nl
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Dr. Henrike Schmidt, Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin, E-Mail: schmidth@zedat.fu-berlin.de