Wolken eine Sprache geben Lange bevor es zuverlässige Wetterberichte gab, interessierte sich die Dichtung für Meteorologie. Wissenschaftler des Peter-Szondi-Instituts haben das Verhältnis von Wetter und Literatur untersucht.
Tagesspiegel-Beilage vom 15. Dezember 2018
News vom 20.12.2018
Das Barometer, mit dem Johann Wolfgang von Goethe den Luftdruck maß, sah ganz anders aus als heutige Instrumente. Es hatte die Form einer Birne und war mit Wasser gefüllt. Gab es schönes Wetter, stieg der Pegel im bauchigen Teil, bei schlechtem sank er. Goethe war von diesem Gerät fasziniert, denn es machte Phänomene sichtbar, die zu seiner Zeit noch völlig rätselhaft waren.
Die Wissenschaft vom Wetter gab es damals nur in Anfängen. Die Meteorologie als moderne wissenschaftliche Forschungsdisziplin sollte sich erst in den kommenden Jahrzehnten entwickeln. Wie wenig selbst ein Universalgenie wie Goethe die Vorgänge am Himmel erklären konnte, zeigt seine eigene Theorie für das Auf und Ab im Barometer: Die Erde atmet ein und aus. Wie ein lebendiges Wesen, so dachte er.
„Lange war das, was am Himmel passierte, für die Menschen weitgehend unberechenbar, unerklärlich und unbeherrschbar“, sagt Michael Gamper, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit seinem Kollegen Urs Büttner, promovierter Literaturwissenschaftler, hat er untersucht, wie Literatur und Meteorologie einander beeinflusst haben.
Denn als um etwa 1800 mit ersten systematischen Wetterbeobachtungen die Erforschung der Erdatmosphäre begann, war dies auch für die Dichtung ein faszinierendes Thema. Das Forschungsprojekt „Literarische Meteorologie. Wissen, Praxis und Ästhetik des Wetters 1750–2013“ ist in diesem Herbst nach vier Jahren abgeschlossen worden. Aus diesem Anlass fand Ende November ein Workshop statt, in dem verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen Wetter und Literatur erörtert wurden. „Das 19. Jahrhundert war für uns besonders interessant, weil sich Künstler wie Goethe noch aktiv an der Produktion von Wissen beteiligt haben“, sagt Gamper.
So war Goethe am Aufbau von mehreren Wetterstationen im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach beteiligt. Er war außerdem fasziniert von Wolken. Mit Begeisterung las er die Schriften des britischen Apothekers und Chemikers Luke Howard, der 1803 erstmals Wolken in verschiedene Typen einteilte und ihnen die heute noch geltenden Namen gab: Cumulus, Cirrus, Stratus. Goethe widmete ihm 1821 sogar ein Gedicht. In „Howards Ehrengedächtnis“ lobte er die Leistungen des Forschers, betonte aber auch, dass man die Dynamik der Wolken noch lebendiger beschreiben müsste. Eine Aufgabe, die nur ein Dichter erfüllen könne.
In seinen Wolkendiarien notierte Goethe täglich, was er am Himmel beobachtete. Er interessierte sich vor allem für die Übergänge und die Bewegungen zwischen den Wolkenformen. „Goethe wollte eine neue Sprache finden, die so geschmeidig ist, dass sie den flüchtigen, vergänglichen Wolkenvorgängen gerecht wird“, sagt Michael Gamper. Naturwissenschaftlich erklären, warum es Regen, Schnee oder Hagel gab, konnte der Dichter aber noch nicht, auch wenn er es 1825 in seinem Essay „Versuch einer Witterungslehre“ probierte. Die darin enthaltene Theorie von der atmenden Erde klingt heute abstrus, doch sie war dies gemessen am damaligen Wissensstand keineswegs.
Denn die Meteorologie entwickelte sich nur sehr langsam zur verlässlichen Wissenschaft. Zunächst entstanden einzelne Wetterstationen, die sich zu regionalen Netzwerken verbanden und erstmals standardisierte Wetterdaten aufzeichneten. Etwa von 1850 an wurde es durch die Telegrafie möglich, diese Daten auch europaweit auszutauschen, diese in staatlich geförderten Zentralinstituten zusammenzuführen und auszuwerten. Erst jetzt begann man, Wetter als globales Phänomen nach und nach zu verstehen. Von zuverlässigen Wettervorhersagen waren die Menschen des 19. Jahrhunderts aber noch weit entfernt.
Für die Literatur sind die Wissenslücken in der Wissenschaft interessant
Dieses Nebeneinander von Wissen und Nicht-Wissen verarbeitete auch der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter in seinen Erzählungen. Der mit dem Wissensstand der Naturwissenschaften bestens vertraute Autor interessierte sich insbesondere für das unerwartete Wetter, das plötzlich über den Menschen hereinbricht. So entwickelt sich seine Erzählung „Bergkristall“ von 1852 aus einer misslungenen Wetterprognose. Darin wandern zwei Kinder zu Weihnachten ins benachbarte Tal, in dem die Großeltern wohnen. Im Gebirge werden sie von einem Schneesturm überrascht und verirren sich.
An den Anfang seiner Erzählung hat Stifter immer wieder Hinweise auf einen Wetterumschwung gesetzt. Man erkennt daran, dass er sich intensiv mit den meteorologischen Erkenntnissen seiner Zeit befasst hat. „Er wusste genau, welche Zeichen auf einen Schneesturm hindeuten“, sagt Gamper: Milchige Wolkenschleier, rötlicher Himmel, laulichte Luft. Seine Figuren sehen die Vorboten, deuten sie aber falsch. Erst aus ihren mangelnden Kenntnissen der Wetterphänomene kann sich die Geschichte entfalten. „Für die Literatur sind vor allem die Wissenslücken der Wissenschaft interessant“, sagt Gamper. „Die Meteorologie ist ein ausgezeichnetes Feld, um das zu zeigen.“
Das wird auch im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte deutlich. Denn je präziser die Wissenschaft der Meteorologie wurde, je verlässlicher die Wetterberichte, desto mehr nahmen direkte literarische Bezüge auf die Meteorologie ab. Autoren nutzten fortan Begriffe aus der Wetterkunde vielmehr als Sprachmaterial, um eigene Poetiken zu entwickeln. Manchmal kommt die Terminologie nur im Titel vor, ohne auf die eigentlichen Wetterphänomene Bezug zu nehmen. So etwa bei Rose Ausländers Gedichtband „Treffpunkt der Winde“ oder Hans Magnus Enzensbergers „Die Geschichte der Wolken“. Die Literaturwissenschaftler sprechen dann von Meteopoetologie.
Von Amely Schneider