London: Großstadtmythos des 19. Jahrhunderts
„Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer — noch immer starrt in meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses — ich spreche von London.“
Das anhaltende Staunen, mit dem Heinrich Heines Fragment London in den Reisebildern anhebt, reiht sich ein in die Stereotypen der Beschreibungen London-Reisender des gesamten 19. Jahrhunderts: Gefühle der Überwältigung, des Taumels, der Besinnungslosigkeit — Sprachlosigkeit mithin — angesichts der schieren Größe der britischen Kapitale. Dabei hatte Heine sich vorgenommen nicht zu erstaunen, doch es „ging [ihm] wie dem armen Schulknaben, der sich vornahm, die Prügel, die er empfangen sollte, nicht zu fühlen.“ Was ihm nicht gelang, da das Erwartete nicht mit dem Erlebten in Einklang zu bringen war: keine großen Paläste, nur lauter kleine Häuser in unabsehbarer Menge. Eine Überwältigung, die wenige Jahrzehnte später auch die durch eine Reise nach Paris bereits auf Großstadteindrücke vorbereitete Emma Niendorf erfuhr: „Es ist zum Wahnsinnigwerden, dieses sich Dehnen. […] London ist ein einziger Fiebertraum.“ Demgegenüber stellt Henry James, wiederum wenige Jahrzehnte darauf, fest: „It is not the taste of every one, but for the real London-lover the mere immensity of the place is a large part of its savour. A small London would be an abomination, as it fortunately is an impossibility.“ James, ein wahrer London-Liebhaber, schreibt weitere Stereotypen der Beschreibung Londons fort: „London is so clumsy and so brutal, […]. She is like a mighty ogress who devours human flesh; but to me it is a mitigating circumstance […] that the ogress herself is human.“ London erscheint, wenn auch mit menschlichen Zügen ausgestattet, als ein monströser, wuchernder Organismus, der in seiner Gefräßigkeit keine Zeit hat feine Unterschiede zu machen, und ist auch insofern „an epitome of the round world“.
Das Seminar wird sich mit Reisebeschreibungen deutscher, amerikanischer und französischer Autoren beschäftigen. Dabei wird es einerseits um die Stereotypen in der Darstellung des viktorianischen London gehen und andererseits um die sich in dieser Epoche herausbildende feuilletonistische Schreibweise der Großstadt-Reiseliteratur.
Zur Vorbereitung empfohlen sind Darstellungen der Geschichte Londons, wie etwa Peter Ackroyd, London. The Biography, London 2000. Die Lektüreliste wird am Anfang des Semesters bekannt gegeben.