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Almut Keller: Zum didaktischen Potenzial von Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht (Französisch)

1. Einleitung

Bis Mitte der 1990er Jahre spielten Kinder- und Jugendbücher im schulischen Französischunterricht so gut wie keine besondere Rolle. Man las, wenn überhaupt, in der Sekundarstufe I Klassiker wie Le Petit Nicolas (1956) oder speziell für Französischlerner verfasst didaktische Lektüren wie Bonnes vacances (1970). In der Sekundarstufe II konnte jahrelang nur Le Petit Prince (1943) als Klassiker, der sich gleichermaßen an Kinder wie Erwachsene richtet, neben den Klassikern der „Erwachsenenliteratur“ bestehen.

Authentische Kinderbücher und Jugendromane fanden nur vereinzelt ihren Weg in den Französischunterricht und dienten vor allem zur Lesemotivation und Leseschulung, zur Erweiterung landeskundlicher Kenntnisse sowie, in geringerem Maße, zum Spracherwerb (vgl. „Sprungbrett“-Didaktik[1]). Zur Förderung spezifisch literarischer Kompetenzen bevorzugte man nahezu ausschließlich die in der Oberstufe gelesene französischsprachige Literatur für Erwachsene.

Erst in den letzten Jahren wurde ausgehend von der Deutschdidaktik auch der ästhetische Aspekt der Kinder- und Jugendliteratur erkannt und über ihre Rolle im Unterricht nachgedacht. Für den Fremdsprachenunterricht ist das didaktische Potenzial dieses literarischen Subsystems bisher jedoch nur wenig erforscht.

2. Forschungsstand

Die Kinder- und Jugendliteratur-Forschung ist selbst in Bezug auf die Muttersprache Deutsch ein noch junges Forschungsgebiet. Die moderne Forschung beginnt in Deutschland in den 1970er Jahren und umfasst verschiedenste Disziplinen, insbesondere die Erziehungswissenschaften, die Didaktik und Fachdidaktiken, die Literaturwissenschaft und Komparatistik, die Bibliothekswissenschaften, aber auch die Psychologie, die Sozialwissenschaften und die Medienwissenschaften. Lange wurde Kinder- und Jugendliteratur nicht als „richtige“ Literatur angesehen, da sie im Gegensatz zur Erwachsenenliteratur nicht nur zum literarischen, sondern auch zum pädagogischen System gehört (Ewers 2000).

Noch jünger als die auf deutschsprachige Texte bezogene Kinder- und Jugendliteratur-Forschung in Deutschland ist die entsprechende Forschung zu französischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur, denn Kinder- und Jugendliteratur wurde erst in den 1990er Jahren als Unterrichtsgegenstand zunächst von Lehrerinnen und Lehrern für den Französischunterricht entdeckt. Die Durchsicht der deutschsprachigen Forschungsliteratur zu französischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur zeigt, dass es fast ausschließlich Publikationen zu didaktischen und methodischen Fragen (Caspari 2007) unter stark anwendungsorientierter Perspektive (Unterrichtsvorschläge, didaktisch-methodische Überlegungen) gibt.

In der französischsprachigen Forschung liegt der Schwerpunkt ebenfalls auf der Didaktik, allerdings scheint die französische Kinder- und Jugendliteratur als Forschungsgebiet im französischsprachigen Raum deutlich weniger entwickelt zu sein als die deutsche im deutschsprachigen Raum (Caspari 2007: 10).

Insgesamt ist wenig universitäre fremdsprachendidaktische Kinder- und Jugendliteratur-Forschung feststellbar gemessen an der Anzahl der jährlich erscheinenden Titel und der Bedeutung der Kinder- und Jugendliteratur für die Lebenswelt französischer Kinder und Jugendlicher. Daraus leitet sich die Forderung nach dringend erforderlichen universitären Forschungsaktivitäten ab (vgl. z. B. die von Caspari jüngst aufgelisteten „Brennpunkte“ (Caspari 2007: 13ff)).

3. Thema und Ziele des Dissertationsvorhabens

Da es bislang vor allem Erfahrungsbericht und Unterrichtsvorschläge zu fremd- bzw. französischsprachiger Kinder- und Jugendliteratur gibt, Forschung jedoch nur in sehr geringem Umfang und zu wenigen Aspekten, scheint es derzeit am wichtigsten, die „Bandbreite“ der Einsatzmöglichkeiten und Funktionen dieser Literatur zu erkunden. Diese Arbeit verfolgt somit das Ziel, das didaktische Potenzial von Kinder- und Jugendliteratur[2] für den Fremdsprachenunterricht am Beispiel des Französisch- und (teilweise auch des) Spanischunterrichts zu eruieren.

Zahlreiche Rahmenlehrpläne für die Fächer Französisch und Spanisch empfehlen in den Sekundarstufen I und II den Einsatz von Texten der Kinder- und Jugendliteratur vornehmlich zur Förderung des Leseverstehens. Sie lassen allerdings offen, welche Kompetenzen darüber hinaus mit dieser Literatur im Fremdsprachenunterricht erworben werden können. Insbesondere finden sich kaum Hinweise darauf, inwieweit Kinder- und Jugendliteratur für den Erwerb literarischer Kompetenz empfohlen wird[3]. Daher werde ich in meinem Dissertationsprojekt nicht nur dieser Frage nachgehen, sondern ebenfalls herausarbeiten, für welche Kompetenzen sie sich genau so gut wie „Erwachsenenliteratur“ eignet, für welche nicht so gut und für welche möglicherweise sogar besser. Denn in den letzten dreißig Jahren sind die Grenzen zwischen den beiden Literaturen zunehmend durchlässig geworden.

Ich gehe von der zentralen These aus, dass anhand von Kinder- und Jugendliteratur mit ein und demselben Buch gleichzeitig verschiedene Kompetenzen in besonderem Maße gefördert werden können. Dies soll anhand existierender Kompetenzmodelle ((Burwitz-Melzer, A. Bergfelder) für die einzelnen Kompetenzbereiche erkundet werden – sowohl auf der Basis von Forschungsliteratur als auch durch eine eigene empirische Untersuchung an Schulen in Berlin und ggf. weiteren Bundesländern (z. B. Hessen). Dafür sollen ein konzeptioneller und empirischer Zugriff kombiniert werden. Ziel ist, einen grundsätzlichen Beitrag zu einer der zeit noch nicht einmal in Ansätzen existierenden Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur im Fremdsprachenunterricht zu leisten. Gleichzeitig kann die Arbeit Hinweise für die Lehrerfortbildung zur Nutzung der bisher „unentdeckten“ Potenziale der Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht der Sekundarstufen I und II geben.

Das Dissertationsvorhaben ist in ein größeres mehrsprachiges Forschungsprojekt zu romanischer Kinder- und Jugendliteratur des Arbeitsgebietes „Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen“ der Freien Universität Berlin (Projektleitung: Prof. Dr. Daniela Caspari) eingebunden, dessen übergreifendes Ziel es ist, den Stellenwert dieser Literatur für den institutionalisierten Unterricht neu zu bestimmen.

4. Vorgehen

Im Rahmen meines Dissertationsvorhabens nutze ich die Metapher der „doppelten Brückenfunktion“[4] von Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht als Fokussierung bzw. Strukturierungshilfe, um in einem ersten Teil anhand von Forschungsliteratur aus verschiedenen Disziplinen, insbesondere der Deutschdidaktik, der muttersprachlichen Französischdidaktik sowie der Fremdsprachendidaktik, die, sicher weit über die in der Deutschdidaktik genannten Funktionen hinausgehenden, theoretisch möglichen „Brückenschläge“ dieser Literatur für den Fremdsprachenunterricht zu bestimmen.

Damit möchte ich das Konzept der „doppelten Brückenfunktion“ deutlich erweitern[5] und in einem zweiten Teil die Gesamtheit der theoretischen Potenziale von Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht herausarbeiten.

Dieser weite Horizont soll in einem dritten Teil reduziert, fokussiert und konkretisiert werden, um den spezifischen Beitrag von Kinder- und Jugendliteratur für die einzelnen Kompetenzbereiche des Fremdsprachenunterrichts zu gewinnen. Dies geschieht aus zwei Perspektiven: Um herauszufinden, welche Funktionen Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht bislang übernimmt und welches aus Lehrer- und ggf. Schülersicht die größten Vorteile und Probleme dieser Literatur darstellen (z. B. die Altersfrage), sollen zum einen Lehrende und ggf. Lernende nach ihren Erfahrungen mit dem Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im Französisch- und Spanischunterricht befragt werden. Zum anderen soll anhand bildungspolitischer Vorgaben (insbesondere Lehrpläne, Bildungsstandards, EPA) und fachdidaktischer Literatur (konzeptioneller Literatur und Erfahrungsberichten) näher bestimmt werden, welche Funktionen Kinder- und Jugendliteratur innerhalb des Fremdsprachenunterrichts sinnvollerweise übernehmen könnte.

Auf der Basis der Ergebnisse der Teile 1, 2, und 3 sollen in einem vierten Teil die noch „unentdeckten“ Potenziale von Kinder- und Jugendliteratur für den Französisch- und Spanischunterricht aufgedeckt werden. Zu erwarten ist, dass das besondere Potenzial dieser Literatur für den Fremdsprachenunterricht zu einer systematischen Schreibschulung genutzt werden könnte, womit eine frühzeitige Entwicklung literar-ästhetischer Kompetenz einherginge. Derzeit ist geplant, diese bislang „vernachlässigten“ Kompetenzen anhand der Untersuchungsergebnisse und weiterführender Literatur theoretisch-konzeptionell zu entwickeln. Dies soll primär am Beispiel des Französischunterrichts geschehen, jedoch sollen für diese Konzeption die neuesten Tendenzen der Spanisch- und möglicherweise auch Italienisch-Didaktik berücksichtigt werden. Zur Illustration und Konkretisierung werden Aufgabenbeispiele entwickelt und ggf. erprobt.

5. Forschungsmethoden

Dieses Dissertationsvorhaben verfolgt zwei Zugriffsweisen: (1) Analyse der vorliegenden Forschungsliteratur sowie der bildungspolitischen Vorgaben der Länder (Lehrpläne, EPA, Bildungsstandards), (2) Befragungen anhand von Fragebögen und Interviews von Lehrerinnen und Lehrern sowie ggf. Schülerinnen und Schülern an ausgewählten Schulen in verschiedenen Bundesländern.

Die Ergebnisse beider Zugriffsweisen sollen in einer Neubestimmung des didaktischen Potenzials von Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht münden. Die daraus entwickelte Konzeption des Stellenwertes literarischer Texte soll durch Lernaufgaben illustriert und konkretisiert werden.

6. Literatur

  • Abraham, Ulf / Kepser, Matthis (2006): Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 2., durchgesehene Auflage. Berlin: Erich Schmidt.
  • Bergfelder, Angela (in Vorbereitung): Literarische Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht (Französisch) (Dissertationsprojekt an der Freien Universität Berlin).  
  • Burwitz-Melzer, Eva (2005): Kompetenzen für den Literaturunterricht heute. Ein Beitrag zur standardorientierten Didaktik des Fremdsprachenunterrichts. In: Fremdsprachen lehren und lernen 34/2005: 94-110.
  • Caspari, Daniela (2007): À la recherche d’un genre encore mal connu – Zur Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur für den Französischunterricht. In: französisch heute 1/2007: 8-19.
  • Dies. (2008): Grau, treuer Freund, ist alle Theorie? Zur Forschungslage im Bereich französische Kinder- und Jugendliteratur (Vortrag auf dem 6. Kongress des Frankoromanistenverbandes „Normen – Normes“ in Augsburg, gehalten am 25.09.08).
  • Delanoy, Werner (2002): Fremdsprachlicher Literaturunterricht. Theorie und Praxis als Dialog. Tübingen: Gunter Narr.
  • Escarpit, Denise (Ed.) (2008): La littérature de jeunesse. Itinéraires d’hier à aujourd’hui. Paris: Magnard.
  • Ewers, Hans-Heino (2000): Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. München: Wilhelm Fink.
  • Kullmann, Thomas (2008): Englische Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt.
  • Nünning, Ansgar / Surkamp, Carola (2006): Englische Literatur unterrichten. Grundlagen und Methoden. Seelze-Velber: Kallmeyer.
  • O’Sullivan, Emer /Rösler, Dietmar (2002): Fremdsprachenlernen und Kinder- und Jugendliteratur. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 1/2002: 63-111.
  • Dies. (2008): Mit Kinder- und Jugendliteratur arbeiten. Warum und wie? In: Praxis Fremdsprachenunterricht 6/2008: 3-6.

[1] Kinder- und jugendliterarische Texte wurden im Fremdsprachenunterricht lange vor allem als Themenlieferanten zum sozialen, moralischen und landeskundlichen Lernen sowie als Übungsanlässe für den Spracherwerb bzw. als Sprungbrett für kreative Aktivitäten genutzt. 

[2] Kinder- und Jugendliteratur (KJL) ist ein Sammelbegriff, der ein weites Feld an Primärtexten umfasst (vom Bilderbuch für Kleinstkinder über Erstlesebücher bis zum Adoleszenzroman). Unter KJL wird i.d.R. die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen tatsächlich konsumierten Literatur verstanden. Ewers unterschiedet folgende acht Definitionen, um diesem nicht klar umgrenzten Gegenstandsbereich gerecht zu werden: Kinder- und Jugendlektüre, intentionale KJL, nicht-akzeptierte KJL, intendierte bzw. nicht-intendierte Kinder- und Jugendlektüre, sanktionierte bzw. nicht sanktionierte KJL sowie spezifische KJL. Mit letzter bezeichnet Ewers die eigens für Kinder und Jugendliche hervorgebrachte Literatur (Ewers 2000: 16ff). Ich werde mich in meinem Dissertationsvorhaben auf eben diese „spezifische Kinder- und Jugendliteratur“ beschränken.

[3] Ein Grund könnte darin liegen, dass dieser Kompetenzbereich in den Bildungsstandards (2003) für die Sekundarstufe I keine besondere Rolle spielt.

[4] Kinder- und Jugendliteratur schlage zum einen eine Brücke zur Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen, zum anderen schlage sie als „Einstiegsliteratur“ eine Brücke zur allgemeinen Literatur (vgl. Sernetz 2000: 81, O’Sullivan/Rösler 2002: 8).

[5] Angedacht ist die Darstellung der verschiedenen Funktionen von Kinder- und Jugendliteratur für den Fremdsprachenunterricht als „Netzwerk“.

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