Laudatio zu Ehren von Imre Kertész
Prof. Dr. Joachim Küpper
Foto: David Ausserhofer
von Prof. Dr. Joachim Küpper
(Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Institut für Romanische Philologie)
- Es gilt das gesprochene Wort -
Lieber Imre Kertész,
sechzig Jahre ist es jetzt her, daß Sie – als einer von wenigen – das Konzentrationslager als Lebender, Überlebender verlassen konnten, befreit von amerikanischen Truppen. Sechzig Jahre, das ist eine lange Zeit. Heute sitzen Sie hier, im Festsaal einer Universität, die zwar erst nach dem Ende des Krieges gegründet wurde, mit Hilfe derjenigen, die Sie befreit haben, gleichwohl eine deutsche Universität, in einer Stadt, die einst die Hauptstadt des Dritten Reiches war. Dieser düstere Horizont ist in dieser Feierstunde präsent, und er ist es unabhängig davon, ob wir dies wollen oder nicht. Dafür, dass Sie die Ehrendoktorwürde der Freien Universität annehmen, können wir, die Mitglieder dieser Universität, aber auch die Einwohner dieser Stadt und die Bürger dieses Landes nur dankbar sein, Ihnen dankbar sein. Sie waren vor gar nicht langer Zeit bereits einmal hier zu Gast, auf Initiative von Paola Traverso, und diese Veranstaltung war für beide Seiten, für das mehrhundertköpfige Publikum, aber auch für Sie, wie Sie selbst dann sagten, ein bewegendes Ereignis. Und Sie haben gesagt, in einem vor kurzem erschienenen Interview mit einem bekannten Pariser Journalisten, der Sie fragte, warum Sie und Ihre Frau in Berlin leben, dass Sie in diesem Land eine Aufgabe haben ('une mission').1 Aber vielleicht sollte ich über Ihre Motive, den Ihnen von der FU angetragenen doctor honoris causa zu akzeptieren, nicht spekulieren, sondern es Ihnen selbst überlassen, etwas dazu zu sagen oder auch diese Motive ganz für sich zu behalten.
Vor sechzig Jahren, als Sie dann wieder frei waren, begannen Sie zu schreiben, nicht unmittelbar, Sie brauchten fünfzehn Jahre, bis Sie Sich im Stande fühlten, über das Vergangene zu handeln. Das Produkt wurde zu Ihrem Hauptwerk – dem einzigen Text, auf den ich in den wenigen Minuten, die ich habe, werde eingehen können –, dem Text, der uns in der Sprache dieses Landes als 'Roman eines Schicksallosen' bekannt geworden ist. Nicht weniger als weitere fünfzehn Jahre haben Sie daran gearbeitet. Und der Grund für das Schreiben war, wie Sie in dem bereits erwähnten Interview noch einmal deutlich gemacht haben, dass die Überführung von Erleben in Sprache Ihnen geholfen hat, das Erlebte präsent zu halten, es also nicht zu verdrängen, es aber zugleich auf Distanz zu bringen. Was wir in Sprache fassen, ist nicht getilgt aus unserem Inneren, aber es ist dennoch ausgedrückt, es ist auch außerhalb von uns, und wir können es dann betrachten in einer Art, die nicht emotionsfrei ist, die aber den Zugang eröffnet zu einer Reflexion, zu einer rationalen Anschauung des Erlebten. Für Sie hat dieser Prozess des Auf-Distanz-Bringens durch Schreiben bis zu dem Punkt geführt, dass, als Sie vor gar nicht langer Zeit das Drehbuch zur Verfilmung verfaßt haben, Sie Sich dabei – so Ihre eigenen Worte – stärker an Ihren Roman erinnert fühlten als an das von Ihnen selbst Erlebte ('je me suis davantage souvenu du roman que des événements que j'ai vécus'): Durch das Schreiben war Ihre eigene Erfahrung in den Lagern für Sie selbst zur Erfahrung der von Ihnen kreierten literarischen Figur geworden ('celle de mon personnage') – – Ihr Interviewpartner reagierte fast irritiert auf diese Aussage. Aber was Sie dort sagen über Ihr Schreiben, entspricht letztlich dem, was ein anderer großer Mann aus Kakanien in eine ganze Theorie gefaßt hat, die vielleicht wirkmächtigste anthropologische Theorie des 20. und möglicherweise auch des 21. Jahrhunderts: Das In-Sprache-Fassen dessen, was in unserer Psyche arbeitet, macht, so Freud, die Dinge nicht ungeschehen, die gewesen sind, und es macht sie auch nicht wieder gut; die Traumata bleiben; aber ihre Artikulation ist die einzige Chance, uns zu begreifen und unseren prekären, schwankenden Frieden mit dem zu machen, was gewesen ist.
Dieser mühselige – fünfzehn Jahre – Prozess des Schreibens war also allererst ein persönliches Exercitium, der Versuch, einen Weg zu finden, um nach dem physischen Überleben auch ein psychisches Überleben möglich zu machen, nicht in der Verzweiflung zu versinken, die eine Reihe prominenter Überlebender der Lager dazu gebracht hat, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. An den Nobelpreis freilich haben Sie dabei nicht gedacht, und Sie haben wohl, wenn ich die Kontexte recht verstehe, überhaupt nicht mit Blick auf die Akzeptanz beim Lesepublikum geschrieben. Denn Sie waren mit den Verhältnissen im Budapest der 50-er und der 60-er Jahre so vertraut, daß Sie wußten, Ihr Text würde dort keine begeisterte Aufnahme finden, bei den Machthabern nicht, die statt der Beschäftigung mit Vergangenem lieber Romane wollten, die die lichte Zukunft des Sozialismus thematisierten; aber auch nicht bei anderen Überlebenden in Ihrer Heimatstadt, denen die Perspektive, die Sie für Ihren Helden, Köves, wählten, die Sicht eines Heranwachsenden, eines jungen Menschen, der teils noch Kind ist, teils Erwachsener, mit all dem, was dies impliziert, an Naivität, aber auch an Unbekümmertheit und naturhafter Vitalität, denen die Schilderung der Schoah aus dieser Perspektive verharmlosend erschien und denen vor allem das Ende – die Befreiung des jungen Köves – allzu irenisch, allzu optimistisch war. Für Sie aber war diese Sicht des Köves und auch seine Errettung durch persönliches Erleben verbürgt. Diese Perspektive war nicht repräsentativ, aber sie war dennoch wahr, und Sie liessen Sich trotz mancherlei Ausgrenzungen, Schikanen, auch Repressalien nicht davon abbringen, Ihren Text so zu veröffentlichen, wie Sie dies für richtig hielten. Ganz abgesehen von Ihren Werken ist dies ein Verdienst von Ihnen als Person, das auch im Kontext des heutigen Anlasses hervorgehoben werden sollte: Die schrecklichen Erfahrungen des Dritten Reiches haben Sie nicht dazu geführt – im Unterschied zu manch anderem – nach dem Krieg sich den Kräften zuzugesellen, die am lautesten beanspruchten, die einzigen wirklichen Antifaschisten zu sein.
Das weitere Schicksal Ihres Texts ist dann etwas ganz Erstaunliches. Sie hatten ihn nicht mit Blick auf Erfolg beim ungarischen Publikum geschrieben, aber erst recht nicht mit Blick auf das deutsche Publikum. Wir reden ja über die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, und zu jener Zeit war der Vorhang, der Ost und West trennte, in der Tat noch ein eiserner. Erst später kam das Buch in den Westen, im Kontext ihres Brotberufs (Sie verdienten Ihren Lebensunterhalt als Übersetzer, und zwar deutschsprachiger Texte, Nietzsche, Freud, Hofmannsthal, Canetti, Wittgenstein), es erschien hier im Jahr 1990, blieb aber zunächst unbeachtet. Ich habe mir jene erste Übersetzung und dann die zweite, uns heute vertraute aus dem Jahr 1996 einmal im Vergleich angeschaut und möchte sagen: nein, der nächstliegende Grund für eine solche Konstellation – kaum eine Reaktion auf eine erste Übersetzung, eine überwältigende Resonanz einer zweiten, einer Neu-Übersetzung –, die unterschiedliche literarische und sprachliche Qualität der zwei Versionen, dies ist, so glaube ich, nicht der Grund.
In den Jahren, die zwischen diesen beiden deutschsprachigen Fassungen Ihres Hauptwerks liegen, hatte sich etwas geändert in der Psyche dieses Landes. 1990 kollabierte die Grenze zwischen den zwei Systemen des kalten Krieges, einige Jahre brauchten die Europäer in Ost und West, um diesen plötzlichen Umschwung voll und ganz zu begreifen, und dann war sie wieder in ganz eindringlicher Form da, die Welt, die mit dem Ende des 2. Krieges zunächst verschwunden war, und damit auch die über fast 50 Jahre hinweg gestaute Vergangenheit. Sie ist uns ja auch heute, zum 60. Jahrestag des Endes, in einer auf den ersten Blick paradox anmutenden Weise geistig stärker präsent als etwa vor zwanzig Jahren. Und diese Verschiebung der psychischen Befindlichkeit von uns, den Kindern und Enkeln jener Deutschen der Zeit des Dritten Reichs führte dazu, daß das Dokument einer individuellen Bewältigung der Lagererfahrung zu einem Text wurde, der in Sprache faßte, was dieses Land brauchte, um seiner eigenen Vergangenheit auf neue Weise ins Auge sehen zu können – ein zufälliges, kontingentes Zusammentreffen, das man aber in seiner Produktivität doch fast als ein glückliches Zusammentreffen zweier Bedürfnisse würde bezeichnen wollen, ein Zusammentreffen indes vor dem Horizont der Katastrophe.
Woher diese, man kann nicht sagen enthusiastische, vielleicht eher: diese sehr emotionale Reaktion auf Ihren Text in Deutschland seit der Mitte der 90-er Jahre? Dieses Land ist ein schwieriges Land, für alle, die mit ihm in der Zeit des Dritten Reichs unfreiwillig in Kontakt gekommen sind, für alle, die heute mit ihm in Kontakt treten, und auch für uns heutige Deutsche selbst. Als Einzelne, als nach dem Krieg Geborene – und die Jungen unter uns sind ja fast ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg geboren – sind wir nach den Maßstäben der westlichen Tradition unschuldig; aber wir sind Kinder oder Enkel jener Deutschen, die bis auf wenige Ausnahmen aktiv oder zumindest passiv involviert waren in Krieg und Genozid. Diese ambige, nicht aufzulösende Konstellation führt zu mancherlei Absonderlichkeiten in unserem Verhalten. Das Problem, auf das all' diese Absonderlichkeiten verweisen, welche uns selbst oft gar nicht auffallen, ist letztlich ein einziges: Was kann uns heutigen Deutschen dazu verhelfen, der Vergangenheit unseres Volkes ins Auge zu sehen und dabei dann nicht aus dem nackten Entsetzen über das Gesehene zu fliehen in die illusionäre Identifikation mit der absoluten Gegenposition, in das psychisch verständliche, aber einigermaßen absurde Konzept des heutigen Deutschland als einer Art Weltgewissen, als eines Landes, das einstige Opfer und auch einstige Befreier zu lehren hätte, was Moral und was Demokratie sind.
Ich denke, lieber Herr Kertész, Sie sind mit Ihrem 'Roman eines Schicksallosen' derjenige gewesen, der dies in einer Art geschafft hat, wie wir dies bislang nicht kannten und der auf diese Weise mit seinem Text Reaktionen von einer großen Unmittelbarkeit ausgelöst hat – Sie selbst erwähnen immer wieder die zahllosen Briefe, die Sie von deutschen Lesern bekommen, auch und gerade von jungen und sehr jungen Lesern. Ihr Buch sagt die Dinge, von denen wir alle wissen, dass sie sich zugetragen haben, in einer Weise, die es uns möglich macht, am Ende der Lektüre zu sagen: ja, das alles haben unsere Eltern und Großeltern getan. Und es ist das, worauf es ankommt, wenn wir jemals lernen wollen, diese Vergangenheit zu tragen, das Uns-Selbst Eingestehen: wir gehören nun einmal durch Geburt auch in diese Tradition.
Ein Historiker hätte ein Buch wie Ihres nicht schreiben können oder dürfen. Selbst die postmodernen Varianten wie 'oral history' haben ja die Pflicht, das Präsentierte so auszuwählen, dass sich ein repräsentatives Bild ergibt. Die literarischen Fiktionen sind letztlich an nichts Externes gebunden, sie dürfen alles, und das macht sie vielen suspekt. Und so dürfen literarische Fiktionen - Ihr Text ist nicht in der Ich-, sondern in der Er-Form geschrieben - denn auch einen Roman über die Schoah mit der Rettung und Befreiung des Helden enden lassen. Aber auch in Ihrem Text hat diese Errettung nicht den naiven Optimismus des Märchens. Spielbergs Film 'Schindlers Liste' haben Sie heftig kritisiert, vor allem wegen der triumphalistischen Schlußszene. Köves, der Held Ihres Texts, lebt, wenn die Diktatur zu Ende ist. Aber dieses Weiterleben ist ein prekäres, es bedeutet nicht das Hinter-Sich-Lassen des Vergangenen und auch nicht den entschlossenen Aufbruch in ein neues, unbelastetes Leben. Zu sagen, dass so etwas möglich gewesen wäre, hieße nach Ihrer Auffassung, die Wahrheit zu verfälschen. So ersparen Sie zwar den Lesern das unmittelbare Ansichtigwerden der schlimmsten Grausamkeiten ('les pires atrocités'), aber Sie wollen Ihre Leser gleichwohl treffen und auch verletzen ('blesser'). Die Verbrechen sind in dem Text präsent. Sie sind es in der Form, dass der junge Köves immer wieder die Dinge, die ihm bei der Deportation, bei der Ankunft im Lager und dann auch im Lageralltag begegnen, wie selbstverständlich auf die ihm im Elternhaus anerzogenen Maßstäbe von Vernunft, pragmatischer Ethik und 'normalem' Verhalten bezieht, dem etwa die Trennung nach jung und alt an der Rampe zunächst als nichts anderes denn als die Applikation unserer geläufigen Sicht erscheint, Menschen nach dem Lebensalter zu kategorisieren. Der Leser indes weiß, was hinter dieser Sortierung steht und was auch Köves dann aus der Rückschau begreift, und das Auseinanderfallen der im Text explizit gemachten Erklärungsversuche des Protagonisten und des Tatsächlichen macht das Zersplittern aller Logik und aller Ethik, die Außerkraftsetzung aller Kategorien des Menschlichen, in einer ganz verstörenden Weise nachvollziehbar. Und wie sehr die autobiographischen Kontexte, auf die Ihr Roman unzweifelhaft verweist, v. a. die Rettung, eine Konstellation von sinnfremder Zufälligkeit darstellt, wurde nochmals deutlich - Sie selbst haben davon berichtet – als nach der Verleihung des Nobelpreises der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald Ihnen ein Dokument zuschickte, den auf den 18. Februar 1945, d.h. kurz vor der Befreiung, datierten Vermerk über den Tod eines Häftlings, dessen Name Imre Kertész gewesen sei.
Ihr Werk hat, ausgehend von der Aufnahme in Deutschland, dann auch international eine enorme Resonanz gehabt, und es war erst das, was Ihnen den Nobelpreis eingetragen hat. Sie haben oftmals geäußert, dass der Holocaust für Sie eine allgemeine, anthropologische Dimension habe, dass er in seinem Belang das Verhältnis zwischen den zwei Völkern, Juden und Deutschen, übersteigt, und das Echo, das Ihr Text auch fernab des Geschehens ausgelöst hat, gibt Ihnen Recht. In der Tat sind die Fragen, die der Zivilisationsbruch stellt, universell. Die damaligen Deutschen haben großen Teilen der Species bestritten, Menschen zu sein. Es gibt in den Diskussionen um den Holocaust auch Stimmen, prominente zumal, die die Täter und ihre Taten als un-menschlich qualifizieren. Aber soweit ich dies verstehe, war damit zumeist eher ein moralisches Urteil gemeint, und nur in einzelnen Fällen die These, ausschließlich Deutsche seien zu solchen Taten fähig. Damit aber stellt die Geschichte jener Jahre die Frage: Was ist das Menschliche? Und in dieser Form hat diese Frage dann auch für alle Nicht-Deutschen ein hohes Beunruhigungspotential. Wir werden in einer gobalisierten Welt mit vielen unterschiedlichen Traditionen, auch mit vielen unterschiedlichen religiösen Traditionen, keine tragfähigen Antworten darauf finden können – die Geschichte der Balkankriege und der afrikanischen Kriege am Ende des 20. Jahrhunderts haben dies in blutiger Deutlichkeit gezeigt –, wenn wir es als globale Gemeinschaft nicht lernen, uns immer wieder mit der ganzen Spannbreite dessen, was Menschen zu tun in der Lage sind, zu konfrontieren. Aber wir brauchen umsichtige und weise Lehrer, um uns an die schrecklichen Facetten des Menschlichen so heranzuführen, dass wir beim Anblick unserer selbst nicht die Flucht ergreifen und uns dann illusionär einrichten in einem Idyll, von dem das erste Buch der Torah bzw. der Bibel sagt, das es bis zum Ende aller Zeiten verschlossen ist.
Meine Zeit ist um, vieles bleibt ungesagt. Es wird jetzt gleich Beifall geben, aber dieser Beifall gilt nicht mir, sondern Ihnen. Für eine solche Situation hat die Sprache dieses Landes, bei allem Reichtum, den sie gewiß hat, bei allen positiven Funktionen, die sie einst hatte, als sie noch die große, alle Ethnien verbindende zentraleuropäische Kultursprache war, für diese Situation hat das Deutsche keine angemessene Einleitungsformel gefunden; und so adaptiere ich denn abschließend einen Satz, den die angelsächsische Welt für derartige Situationen ersonnen hat, was mir dann auch erlaubt, mitzuapplaudieren: Bitte ehren Sie mit mir Imre Kertész.
1 L'Entretien de François Busnel, in: Lire, avril 2005, S. 100 - 106.