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Ansprache von Prof. Dr. Peter-André Alt

Dekan des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften

Prof. Dr. Peter-André Alt

zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Orhan Pamuk

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Verehrter Herr Pamuk, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, meine sehr geehrten Damen und Herrn,

die Freie Universität und ihr Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften ehren heute mit Orhan Pamuk einen Schriftsteller, den man einen großen Reisenden im weitläufigen Reich der Imagination nennen kann. Die Imagination ist der magische Betriebsstoff der Literatur, denn sie erzeugt Bilder von Dingen, die abwesend sind; sie baut Brücken zwischen Erscheinungen, die in unserer Wirklichkeit gar nicht zusammengehören; und sie bringt uns Menschen, Denkhaltungen und Kulturen nahe, die wir zuvor nicht kannten. Wer Orhan Pamuks Bücher liest, erfährt die verständigende und zugleich verstörende Arbeit der literarischen Imagination auf faszinierende Weise.

Orhan Pamuk führt nicht nur seine Protagonisten, sondern auch uns, seine mitteleuropäischen Leser, in irisierende Welten – in topographisch ferne, kulturell unbekannte Realitäten, in das Reich mythischer Erzählungen, in eine fremde Geschichte, in die Zonen brodelnder Kulturkonflikte, in Sphären der Gewalt, der Liebe und Melancholie. Die Einbildungs¬kraft des Schriftstellers Orhan Pamuk baut uns Wege ins alte osmanische Reich und in die moderne Türkei, nach Anatolien und zum Bosporus. Ein Schriftsteller kann ein Ethnologe mit eigener Expertise sein. Diese Rolle übernimmt Pamuk immer wieder in seinen Texten – zuletzt in seinem autobiographischen Buch „Istanbul“. Er schafft Verbindungen zwischen kulturellen Systemen, die sich wechselseitig fremd sind und deshalb das Wissen voneinander brauchen, damit sie nicht blind bleiben für das, was ihnen selbst fehlt. Michael Krüger, Orhan Pamuks Verleger, merkt dazu an, Pamuk sei ein Autor, der dem Westen den Osten und dem Osten den Westen erklären könne – einer, der durch seine Erzählkunst ein ganzes Land für uns aufschließe und verständlicher mache. Gert Mattenklott, dem wir die Anregung zur Ehrung Orhan Pamuks verdanken, hat dieses außergewöhnliche Vermögen der wechselseitigen Erhellung divergenter Wirklichkeiten vorhin näher gekennzeichnet. Pamuks Werk, so formulierte das Stockholmer Nobelpreiskomittee in seiner Würdigung, habe „neue Sinnbilder für Streit und Verflechtung der Kulturen“ gefunden.

Wie stark die Literatur ihrerseits menschliche Selbstentwürfe und Erfahrungen verändern kann, zeigt Orhan Pamuks Werk immer wieder. Der Roman „Das neue Leben“ („Yeni Hayat“ 1994), dessen Titel Dantes „Vita nuova“ zitiert, beginnt damit, daß der Protagonist auf ein Buch stößt, nach dessen Lektüre er ein anderer ist. Wie das Lesen Pamuks Figuren bestimmt, so durchzieht auch die Leseerfahrung des Autors die Geschichten, die er erzählt. Das dokumentiert zuletzt der „Schnee“-Roman mit seinen Bezügen zu Franz Kafka und Thomas Mann. Ka ist ein Verwandter des Landvermessers aus Kafkas „Schloß“-Roman: beide erscheinen als Fremde in einer unwirtlichen, winterlichen Landschaft, stoßen auf Widerstände und Argwohn, finden aber allmählich – gegen anfängliches Mißtrauen – in die vertrackte Wirklichkeit einer ihnen unbekannten Kultur. Wenn Ka. im „Schnee“-Roman wiederum von seinem Frankfurter Freund Hans Hansen spricht, so erkennt jeder Thomas Mann-Leser sogleich die Anspielung auf den „Tonio Kröger“ – jene Erzählung, die dieselbe Melancholie des am Leben Leidens beschwört, die auch Pamuks Texte durchziehen kann („Hüzün“ heißt ihre türkische Spielart, wie wir im „Istanbul“-Buch lernen). Solche Referenzen offenbaren einen Autor, der seine Lektüren produktiv macht, indem er sie in die eigenen Geschichten übersetzt. Orhan Pamuk selbst hat neben Kafka immer wieder Dostoevskij und Turgenjew, Joseph Conrad, Sartre und Virginia Woolf als Vorbilder angeführt. In "Das neue Leben" nennt der Erzähler den Roman die „größte Erfindung der westlichen Welt“. Pamuks literarisches Œuvre – vor allem „Die weiße Festung“, „Rot ist mein Name“ und „Schnee“ – demonstriert, daß der Roman, wie er ihn begreift, eine Mischung aus orientalischer und westlicher Erzählkunst, aus Tradition und Moderne ist. Auch hier, auf der Ebene der Form, erweist er sich als Autor, der sich in unterschiedlichen kulturellen Topographien bewegt, um das, was sie trennt, besser beschreiben zu können.

Die Freie Universität führt in ihrem Wappen bekanntlich die Leitmotive veritas, iustitia und libertas. Zu ihren zentralen Gründungsideen gehörte – zu Zeiten des Kalten Krieges so mutig wie wegweisend – das Programm des internationalen Austauschs zum Zweck des Abbaus alter Barrieren, Mauern und Zwänge. Die Freie Universität und ihr Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften ehren heute mit Orhan Pamuk einen gelehrten Schriftsteller und Intellektuellen, einen Künstler und reflektierten Leser, einen Wegbereiter für das Gespräch zwischen den Kulturen im Zeichen von wechselseitigem Respekt, Toleranz und Selbstbestimmungsrecht. Sie ehren einen freien Geist, der Brücken schlägt und gegen die Genügsamkeit derjenigen, die glauben in der Wahrheit zu wohnen, das Schwierige setzt: den Anspruch zu verstehen.

Im Namen der Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften darf ich jetzt den Urkundentext verlesen, um dann die Verleihung der Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber durch die Überreichung der Urkunde an Sie, Herr Pamuk, zu vollziehen.

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