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Laudatio von Prof. Dr. Mark Kirchner

Justus-Liebig-Universität Gießen
Gießener Zentrum Östliches Europa, Turkologie

Prof. Dr. Mark Kirchner

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr verehrter Orhan Pamuk, sehr geehrte Damen und Herren,

„Hiçbir şey hayat kadar şaşırtıcı olamaz. Yazı hariç. Nichts kann so erstaunlich sein wie das Leben – außer dem Schreiben.“ Pamuk zitiert im Epigraphen zum zweiten Kapitel seines ‚Schwarzen Buches’ einen in den Quellen nicht recht nachzuweisenden arabischen Autor, Ibn Zerhani, dessen Name wohl rein zufällig ein wenig an den türkischen Vornamen Orhan erinnert. Sei es wie es sei: Der Satz „Nichts kann so erstaunlich sein wie das Leben – außer dem Schreiben“ gehört zu den Sentenzen aus den Werken des Gefeierten, die inzwischen durchaus ein wenig sprichwörtlich geworden sind. Orhan Pamuk alias Ibn Zerhani bringt mit diesen Worten einen beinahe maßlosen Anspruch zum Ausdruck. Aber diesem selbst gestellten Anspruch ist Pamuk in seiner nun mehr als 30-jährigen Praxis des Schreibens mit jedem weiteren Buch in immer virtuoserer Weise gerecht geworden.

„Nichts kann so erstaunlich sein wie das Leben – außer dem Schreiben.“ Wie soll man diese Leistung aus der Sicht des Lesers, des doch meist passiven, genussorientierten Rezipienten auch nur annährend angemessen beurteilen? Hilflos steht man da, aber nicht einsam. Die Worte aus der Frankfurter Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und erst recht die Stimmen aus Hunderten von Beiträgen zum Autor in Zusammenhang mit dem Nobelpreis für Literatur vor einigen Monaten sind noch nicht völlig verhallt, da verleiht der Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin dem Nobelpreisträger die Ehrendoktorwürde. Wird man sich nun im intertextuellen Netz der Laudationes, Besprechungen, Kommentare und Diskussionen rund um Pamuk verwirren oder bietet die Universität und die Verleihung eines akademischen Grades als durchaus unterschiedliches Forum mit einer durchaus unterschiedlichen Art der Ehrung vielleicht doch die Möglichkeit, bisher weniger berührte Facetten im Schaffen Pamuks zu würdigen? Die Gefahr des Ersteren und die Chance des Letzteren liegen hier eng beieinander. Sowohl beim Friedenspreis des Deutschen Buchhandels als auch beim Nobelpreis stand berechtigterweise ein Pamuk im Vordergrund, in dessen Werk Orient und Okzident in vielen Aspekten – literarischen, gesellschaftlichen und politischen – zusammenfinden und das damit zur Überwindung der seit einigen Jahren verstärkten Sprachlosigkeit zwischen diesen Zivilisationen beiträgt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Gefeierte die ihm häufig in einer vereinfachten Auslegung dieser Würdigungen zugeschriebene Rolle eines Brückenbauers zwischen Islam und westlicher Welt zurückgewiesen hat. Ich denke, wir sollten diese Bemerkung des Autors sehr ernst nehmen, ohne ihn damit sogleich in den Elfenbeinturm zu verbannen. Sicherlich wird aber die Reduzierung von Pamuks Oeuvre auf politisch-aktuelle Aspekte, auf die Verortung der Türkei zwischen Orient und Okzident, auf die Frage der kulturellen Identität des notorischen EU-Beitrittskandidaten weder Anspruch noch Breite des Oeuvres gerecht; ganz zu schweigen von Versuchen, den kritischen Geist Pamuk vor den Karren tagespolitischer Interessen zu spannen.  Umgekehrt können wir aber auch nicht darauf verzichten, Pamuks literarische und öffentliche Stimme zu den uns immer stärker bedrängenden Fragen gebührend zu hören. Der Türke Pamuk ist allerdings kein Rufer in der Wüste; dieser Eindruck mag gelegentlich entstanden sein. In seiner Heimat gibt es Millionen von Menschen, die sich angesichts der Herausforderungen, denen ihr Land zwischen orientalischer Vergangenheit und europäischer Zukunft gegenübersteht, weder in einen erstarrenden Isolationismus noch auf eine Reise in die Vergangenheit begeben möchten. Diese Menschen möchten aber auch nicht kritiklos alles und jedes gutheißen, was aus Brüssel an sie herangetragen wird.

Wenn Pamuk politische Ideen zum Ausdruck bringt, ist allerdings seine Literatur nicht das gefällige Vehikel dafür. In solchen Fällen spricht der Kommentator, Essayist, Interviewpartner oder, wie vor einiger Zeit, der für 24 Stunden ernannte Chefredakteur Orhan Pamuk sehr direkt, klar und deutlich von den Dingen, die das Land bewegen oder bewegen sollten, die Verortung der Türkei zwischen Orient und Okzident gehören dazu. In seinem Werk aber bildet die Behandlung dieses Themenkomplexes nur eine wesentliche von zahlreichen Lesarten. Wenn sich Pamuk als Literat mit den Themen Orient und Okzident beschäftigt, dann baut er nicht so sehr Brücken, er dekonstruiert vielmehr immer wieder die aufgebauschte Dichotomie dieser Ideen. Vielleicht ist auch Dekonstruktion nicht das richtige Wort; der Gefeierte spielt mit dem Orient und dem Okzident in den Köpfen, ist sich aber bewusst, dass dies ein sehr ernstes Spiel ist. Dies gilt besonders für das eingangs erwähnte Meisterwerk Pamuks ‚Das schwarze Buch’ von 1990 mit seinen komplexen und vielschichtigen Reflexionen zu Fragen der Identität im Umfeld einer Suche nach der verschwundenen Geliebten, aber auch für Pamuks früheren allegorischen historischen Roman  ‚Die weiße Festung’. Auch in ‚Rot ist mein Name’ von 1998 holt Pamuk den Leser zwar bei der Orient-Okzident-Thematik ab, führt ihn aber hin zu allgemeinen Fragen der Kunst und der Kreativität. Aber ist da nicht noch sein ‚politischer Roman’ ‚Schnee’, der seit zwei Jahren in Deutschland stark rezipiert und diskutiert wird? Wenn dort unser Held Ka im eingeschneiten ostanatolischen Kars mit all dem konfrontiert wird, was das politische Spektrum der Türkei zwischen Islamisten und Kemalisten, aber auch jenseits davon, zu bieten hat, sollten wir nicht vergessen, dass es sich bei Ka um eine Art Wiedergänger von Kafkas K. handelt und nicht um einen zur Rettung der lokalen Bevölkerung entsandten Parteiaktivisten. Längst ist gerade für das deutsche Publikum noch nicht der ganze Pamuk erschlossen oder erschließbar, auch wenn inzwischen sogar die Lokalzeitung meiner abgelegenen Universitätsstadt Pamuks pseudo-esoterische, hochkomplexe road-novel ‚Das neue Leben’ in Fortsetzung abdruckt. In deutscher Sprache fehlen immer noch Pamuks Frühwerke, hier besonders seine monumentale Familiensaga ‚Cevdet Bey und seine Söhne’, mit der er die Möglichkeiten des klassischen europäischen Romans ausschöpfen und ein Gesellschaftspanorama der Türkei auf dem Weg in die Moderne entwerfen konnte. Aber auch Pamuks essayistisches Werk ist uns in deutscher Sprache nur durch den unlängst erschienenen recht schmalen Band ‚Der Blick aus meinem Fenster’ bekannt. Viel reicher und viel weiter ist das, was Pamuk selbst in türkischer Sprache unter dem vielsagenden Titel ‚Die anderen Farben’ 1999 bei seinem Istanbuler Verlag herausgegeben hat. Pamuks vielschichtige, aber konsequente Geisteswelt wird hier auf mehr als 400 Seiten deutlicher sichtbar als irgendwo sonst. Wenn Pamuk heute, hier in Berlin, in einem akademischen Kontext geehrt wird, so gilt diese Ehrung besonders auch dem scharfsinnigen Essayisten und kritischen Analytiker der Kulturen, der Literaturen, aber auch der Politik in seinem Umfeld.

In seinen weiteren Schriften erweist sich Pamuk als ebenso kühl und rational wie in der Konstruktion seiner Romane. Der Gefeierte zielt allerdings in diesen Betrachtungen nicht nur auf die Wirkung in der Außenwelt, ebenso wird man Zeuge, wie er sich selbst als Schriftsteller zuarbeitet. Er vermag zum Beispiel mit der Distanz des Unbeteiligten die eigenen Romane in den Kontext der Literaturgeschichte zu stellen. Dabei reflektiert er nicht nur Inhalte und Motive, sondern auch vielfältige Techniken seines Schreibens. Intensiv setzt sich Pamuk mit der bei uns noch wenig bekannten türkischen Literaturgeschichte auseinander, in der bis in die 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein der sozial engagierte Realismus dominierte. Pamuk sieht aber seine Wurzeln nur teilweise in der engen nationalen Literaturentwicklung. In seiner westlich orientierten Familie waren es stets die literarischen Strömungen Europas, welche den eigentlichen Orientierungspunkt darstellten. Diese teils unkritische Orientierung hin auf alles, was aus der westlichen Welt kam, und die Gleichsetzung der westlichen Literatur mit ‚Weltliteratur’ reflektiert der Autor heute aus der kritischen Distanz der postkolonialen Literaturtheorie. Pamuk ist aber nicht nur der sachliche, kühle Analytiker, der Konstrukteur einer im Detail noch nicht ausgeloteten hochkomplexen Romanarchitektur, ein Meister in der intellektuellen Aufladung seiner fiktionalen Texte, er vermag gleichzeitig eine düstere, melancholische Stimmung so zu verdichten, dass man sich der poetischen Kraft dieser Texte kaum entziehen kann. Wer allerdings Pamuk nur aus den Übersetzungen kennt, wird vielleicht an dieser Stelle meinen Überlegungen nicht vollständig folgen können. Die nicht immer optimalen Übersetzungen ins Deutsche können die poetische Dichte, die immer wieder bewusst inszenierte Romantik häufig nicht hinreichend vermitteln. Aber auch in den Übersetzungen bemerkt man das, was Sartorius in seiner Frankfurter Laudatio auf Orhan Pamuk sehr treffend als das Loch, die Leerstelle in Pamuks Werk bezeichnet hat. Gibt es etwas Poetischeres als die ungeschriebenen Gedichte in Pamuks Roman ‚Schnee’, als die pseudo-logische Symmetrie des Schneekristalls, der Schlüssel zu allem – und zu nichts? Aber auch das Chaos unterschiedlicher politischer Gruppierungen, durch die dieser Roman uns eine Türkei unter Laborbedingungen vorzuführen scheint, zeigt uns letztlich die dunklen Seiten der Existenz auf einer sehr viel abstrakteren Ebene. All das, und es ließen sich Hunderte von Beispielen anführen, ist mehr als die übliche Verrätselung der nackten Wirklichkeit, an die man sich in der mainstream-Postmoderne gewöhnen durfte. Pamuks zahlreiche Referenzen auf die mystischen Traditionen des Islam haben bei manchen Kritikern, bei manchen Lesern den Eindruck entstehen lassen, dass es hier im wörtlichen Sinne eine mystische Schicht in Pamuks Werk gibt. Auch dieser Auffassung widersprach Pamuk stets hartnäckig. Für Pamuk ist die mystische Strömung des Islam, in die er sich aus einer westlich-bürgerlichen, agnostischen Tradition kommend, bis in den Kern hinein eingearbeitet hat, nur ein Mittel, um auf die – ich gebrauche wieder Sartorius’ Begriff – Leerstellen des Textes, die Leerstellen der Welt hinzuweisen. Für Texte braucht man einen Übersetzer, nicht aber für Bilder. Wer ohne große Lektüremühen und ohne Dazwischenschaltung eines manchmal zweifelhaften Filters fühlen möchte, welche intelligente Zwiesprache die sachlich-kühle, analytische Seite und die irrational-romantische Seite in Pamuks Schaffen hält, schaue sich nur die scheinbar wahllos eingestreuten Photos aus den Familienalben und von verschiedenen türkischen Meisterphotographen in Pamuks großartigen Stadtmemoiren ‚Istanbul’ an. In diesem Gegensatz zwischen der kühl analysierenden, intellektuellen und der romantisch-irrationalen Annäherung an das Schreiben im Sinne von Edgar Allan Poe eher noch als in der vielschichtigen Schilderung des Gegensatzes zwischen Orient und Okzident scheint mir die eigentliche Größe von Orhan Pamuks Kunst zu liegen.

Mit Pamuk kommt aus einer Region, die von sehr vielen, wenn überhaupt, zur Peripherie Europas gezählt wird, Weltliteratur im wahrhaftigen Sinne des Wortes. Aber auch wir, die wir noch immer glauben, in den Zentren zu sitzen, beginnen zu begreifen, dass das Erstaunen über das Phänomen Pamuk, das Erstaunen über diesen Höhepunkt einer jahrhundertealten, reichen literarischen Tradition nur unserer eigenen peripheren Wahrnehmung geschuldet ist. Ich freue mich darüber, lieber Orhan Pamuk, lieber Orhan Bey, dass Sie heute in Berlin diese hochverdiente Ehrung entgegennehmen. Dabei freue ich mich nicht so sehr ex officio, sondern als Ihr treuer, immer begeisterter Leser seit nunmehr über 20 Jahren.