Laudatio von Prof. Dr. Gert Mattenklott
Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
Prof. Dr. Gert Mattenklott
- Es gilt das gesprochene Wort -
Die akademische Ehrung Orhan Pamuks steht im Schatten weit ehrwürdigerer Preise als des doctor honoris causae der Philosophie unserer Universität, und ich will mich auch nicht mit der Erinnerung herausreden, dass der Wunsch danach schon älter ist als die Verleihung des deutschen Friedenspreises und erst recht des Nobelpreises. (Immerhin, die Anfrage aus Dahlem hat Orhan Pamuk früher erreicht als die aus Stockholm.) Mag also die Ehrenpromotion für den Dichter eine von vielen Auszeichnungen sein und unter den schon erwiesenen eine eher unscheinbare, so könnte sie für die Universität als Institution exzentrisch, wenn nicht gar gesetzeswidrig erscheinen. Sie darf nämlich den Dichter nicht als Dichter ehren. Die Verleihung auch dieses Doktorgrades wird durch eine Promotionskommission vorbereitet, die auf der Grundlage zweier Gutachten prüft, ob der Promovend „sich in hervorragender Weise um eines der im Fachbereich vertretenen Gebiete verdient gemacht“ habe. So schreibt es die Promotionsordnung vor. Dichtung ist keines dieser Gebiete, Literaturwissenschaft schon. Hat Pamuk sich um die Literaturwissenschaft verdient gemacht? Zweifelsfrei, indem sein Werk voraussichtlich zum Gegenstand Dutzender Dissertationen wird. Im Ernst gesprochen: Die Kommission hat auch in diesem Fall gesetzeskonform gearbeitet, wie es sich gehört, und entschieden, indem sie den Autor als einen literarischen Sachverständigen ohnegleichen gewürdigt hat, wozu nicht zuletzt sein essayistisches Werk genügend Argumente liefert. Mein Lob heute setzt dieses Verfahren voraus und reicht doch weiter. Für mich persönlich gilt diese Ehrendoktorwürde in erster Linie nicht dem poeta doctus, kritischen Analysten und literarhistorisch weitläufig gebildeten Dichter, der Orhan Pamuk ohne Zweifel auch ist. Ich möchte an dieser Stelle den Dichter über seine akademische Kompetenz hinaus würdigen, die er mit Generationen literaturwissenschaftlicher Buchhalter teilen mag, die damit beschäftigt waren und womöglich sind, zu analysieren, Komplexität zu reduzieren und zu interpretieren, historisierend, ästhetisch rubrizierend.
Die Auszeichnung eines Dichters – dieses Dichters – mit einem akademischen Grad mag über die Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften hinaus die nachdrückliche Anerkennung eines Wissens jenseits der Wissenskulturen bedeuten, die in Fakultäten, Fachbereichen und Instituten festgeschrieben sind. Der Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften vollzieht sie nicht nur namens der Kulturwissenschaften, sondern stellvertretend für die gesamte Universität. Einen Doktor der Philosophie möchten wir Orhan Pamuk nicht im Sinn einer akademischen Spezialisierung nennen. Die Freie Universität würdigt damit vielmehr das Lebenswissen eines Dichters, das in Begriffen der akademischen Wissenschaften zu erkennen und in Forschung und Lehre zu bedenken ihr aufgegeben ist. Ein solches Verhältnis zwischen den Wissenschaften und den Künsten ist in der Universitätsgeschichte unserer abendländischen Tradition durchaus nicht selbstverständlich. Darüber sollte uns die oft pädagogisch propädeutische, wenn nicht gar primär dekorative Ausstattung vieler Universitäten der Welt mit writers in residence nicht täuschen. Platos Argwohn, der den Einfluss der Dichter auf die Jugend für verderblich hielt und ihnen in seinem Staat keinen Platz einräumen wollte, hat in unserer Tradition eine lange Nachgeschichte, der jüdisch-christliche Vorbehalt gegen die Lust an den Künsten um ihrer selbst willen nicht minder. Machen wir uns nichts vor, die europäisch-amerikanische Wissenschaftsgeschichte ist gegen die Künste so voreingenommen wie generell gegen ästhetische Kultur. Deshalb nennen die Universitäten auch zumeist allgemein pädagogische und das heißt in der Regel höchst dubiose Gründe, wie Kreativitätsförderung und Ausbildung kultureller Kompetenz, wenn sie nach Argumenten für Dichter in der Universität suchen. In der Nacht dieser Phraseologie wird aber alles gleich alt und grau.
Stattdessen ein wenig pathetisch vom Lebenswissen der Dichtungen und wohl auch von ästhetischer Erfahrung zu sprechen, ist ein Notbehelf. Wovon ist dabei im Werk Orhan Pamuks die Rede? Der Begriff klingt verdächtig altmodisch, und was er meint, ist vor diesem Verdacht auch nicht gänzlich zu schützen. Er zielt auf den Ort des Literarischen im Leben und zwar nicht kategorisch allgemein, sondern exemplarisch und kasuistisch. Pamuks Œuvre ist den Übergängen, den Metamorphosen, gewidmet, ein spezifisch literarisches und als solches ein uraltes Thema: vom Jugendalter zum Erwachsensein; aus einem außermoralischen in ein moralisches Leben; aus einer archaisch agrarischen in eine zivilisiert urbane Gesellschaft; aus konventionell befestigten Kollektiven in individualisierte Verhältnisse; von Sesshaftigkeit in Mobilität, Regionalität in globale Allerweltshaftigkeit. Die Auslegung dieser Verwandlung in eine linear evolutionäre Vollzugsform ist aber im Grunde bereits eine Konzession an das Vorstellungsvermögen der Wissenschaften. Tatsächlich hat diese Verwandlung nämlich ihre eigene ästhetische Gestalt, deren Richtungssinn uneindeutig und widerspruchsreich kompliziert ist. Verwandlung ist zu allererst eine ästhetische (wenn nicht theologische), jedenfalls keine soziologische oder politische Kategorie.
Immer wieder nimmt Pamuks Erzählen seinen Ausgang bei Kriminalfällen. Hier findet er eines seiner poetologischen wie zugleich kulturellen Grundmuster, das Rätsel. Zum Beispiel „Schnee“ (2002): Ein türkischer Schriftsteller, der lange im deutschen Exil gelebt hat, kommt im Auftrag einer Zeitschrift in das ferne anatolische Kars, von wo er über eine Serie von Selbstmorden türkischer Mädchen berichten soll, die gezwungen worden waren, ihr Kopftuch abzulegen. Das breite kulturelle und politische Spektrum der türkischen Gesellschaft zwischen Kemalisten und Islamisten, Sozialisten und Atheisten erscheint hier in der Miniatur einer Kleinstadt intarsienhaft verdichtet; das gesellschaftliche Panorama transformiert in das Dickicht von politischen Intrigen und privaten Abrechnungen, durchwirkt von einer melodramatischen Liebeshandlung. Hier relativieren sich die weltanschaulichen Zuordnungen. „Weder sind die Islamisten in diesem Roman vormoderne Gestalten noch die Anwälte des Säkularen Demokraten“, hat Lothar Müller zu Recht bemerkt. Über der Szene liegt eine dichte Schneedecke, unter der die großen Konflikte zwischen Politik und Religion widerspruchsreich erstarren, jedes Schneekristall zugleich ein vielfarbiges Prisma. Wie verändert sich dieses rätselhafte Bild, wenn die Decke taut?
Pamuks Werk behandelt den Übergang der türkischen Gesellschaft vom 20. ins 21. Jahrhundert – ihre Modernisierung – gewiss. Doch ist er weder nur deren Chronist, geschweige denn Propagandist, freilich auch nicht ihr Gegner. Literarischen Reichtum gewinnt sein Œuvre aber durch die Geduld des Autors, die Augenblicke dieses Übergangs in Momentaufnahmen von Situationen, dem Portrait von Menschen aller Altersgruppen und Lebensweisen im Zustand der Unentschiedenheit, der Charakterisierung ihrer Widersprüche und Konflikte in Momenten der Entscheidung oder katastrophischer Zumutungen zu zeigen. Ich habe den Begriff des Lebenswissens altmodisch genannt, und vergegenwärtigt man sich, welche ausgedehnten literarischen Provinzen sich unter dem Fluchtpunkt jener Augenblicke des Umschlags und der Verwandlung eröffnen, so ergibt sich leicht eine veritable Literaturgeschichte. In ihren formalen Mitteln reicht sie bei Pamuk bis weit ins 19. Jahrhundert zu Stendhal, Flaubert und Turgenjev zurück. Sie schließt den Existenzialismus Dostojevskijs ein und macht vor Borges nicht Halt. Denkt man überdies an „Das schwarze Buch“ (1991) mit seiner kulturgeologischen Erkundung des Bosporus bis in die Antike oder „Rot ist mein Name“ (1998), eine Geschichte aus dem Osmanischen Reich mit dem Bilderverbot im Zentrum, schließlich den melancholischen Rückblick auf das vergehende „Istanbul“ (2003), so wird schnell deutlich, dass der Hintergrund von Pamuks Erzählen nicht nur in den erzählerischen Mitteln, sondern auch in den Traditionen, die es aufruft, tief gestaffelt ist. In einem weiteren als jedem psychologischen Sinn und in größtmöglicher Distanz von aller evolutionären Versuchung könnte man diese Sequenz als Literatur ausgedehnter Adoleszenzen ohne das Versprechen von Erwachsensein bezeichnen, in Begriffen der Kulturgeographie das Verweilen in der west-östlichen Schwellensituation sehen.
Die literarische Kraft von Pamuks Werk beruht aber jenseits solcher schematischer Zuordnungen darauf, Grundbestände menschlicher Erfahrung von Generationen, Geschlechtern, Lebensaltern etc. aus dem Stoff der eigenen Gegenwart nicht so sehr zu illustrieren, als daraus neu hervorgehen zu lassen. Was bedeutet das Ergriffenwerden durch Liebe, die Ahnung des Todes? was die Erfahrung der Wirklichkeit von Gedanken („Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“) Was hält die Geschichte für Antworten bereit? was die Erfahrung dieser Gegenwart? Alles Fragen, die so alt zu sein scheinen wie Philosophie und Künste unseres Kulturkreises, nur dass sie hier wie erstmals gestellt werden und von Menschen, über die diese Fragwürdigkeit wie eine ansteckende Krankheit kommt. Zum Thema der Verwandlung tritt die Krise als Dauerzustand. Sie ereignet sich mit der Gewalt einer Erweckung und vereinzelt, wen sie ergreift. Die Geburt des Individuums, diese neuerliche Renaissance, vollzieht sich an der Verheißung eines „Neuen Lebens“, und wie bei Dante ist in diesem Roman von 1994 nicht mit Sicherheit auszumachen, ob die Liebe oder ein Buch die Verführung entschieden haben. Die Anerkennung des Buchs als Inbegriff aufklärerischen Wissens, des individuellen Eros als irrational despotischer Wirkungsmacht, dergestalt findet sich die Konstellation der europäischen Aufklärung noch einmal ort- und zeitversetzt. „Eines Tages las ich ein Buch und mein ganzes Leben veränderte sich“, schreibt Osman, türkischer Protagonist und Ich-Erzähler, doch wir wissen schnell, dass Canan, die glücklos Geliebte, dieses Buch wie einen Köder nach ihm ausgelegt hatte.
Gewiss ist freilich, dass für die konservativen Teilhaber dieser Gesellschaft, ein individuelles Glücksversprechen der Anfang aller Laster ist. Doch in der Tat, wie individuell sind diese Versprechungen? Die eudämonistische Kultur des amerikanisch-europäischen Westens scheint durch die Klischees unscheinbarer Bildgeschichten schon das kindliche Gemüt zu vergiften – so ihre kulturpessimistischen Gegner -, und pseudoutopische Bilder sind es immer wieder, nach denen später auch die Liebenden unterwegs sind. Die Bildersüchtigen formieren eine ökonomisch und politisch immer mächtigere Sozietät, durch die im Gegenzug sich eine Geheimgesellschaft von Reaktionären und Renegaten „gebrochener Herzen“ herausgefordert sieht, die eine wie die andere Seite kriminalisiert. - Pamuks Romane sind alles andere als lehrhaft. Die Verfallenheit an Bildversprechen kommt nicht in einem moralischen oder kulturpessimistischen Diskurs zur Sprache, sondern in einer filmästhetischen Anverwandlung des Erzählens. In langen Einstellungen folgt der Leser dem verhinderten Liebespaar Osman und Canan, begleitet sie bei ihren ausschweifenden Reisen bei Tag und Nacht in Überlandbussen - beide den Blick auf den Monitor mit den Krimis und Liebesfilmen über dem Fahrersitz geheftet - glücklos sehnsüchtig beide. Das eigene Glücksverlangen tödlich ernst zu nehmen – Pamuks Protagonisten scheinen auf Katastrophen geradezu Anziehung auszuüben – dieser existenzialistische Impuls zerstäubt hier in der anhaltenden Fragwürdigkeit der beliebigen Glücksbilder. Wie diese sich als Klischees zu erkennen geben – Pamuk ist auch ein brillanter Satiriker -, zerfällt das Ich des eben erst reklamierten Individualismus in zahllose Spaltprodukte: Wie einer auszog, sein Selbst zu gewinnen und am Ende unter der Last der vielen, die er findet, fast zusammenbricht. „Das schwarze Buch“ reflektiert diese entropische Auflösung, die von keiner Philosophie oder Bildungsfrömmigkeit mehr überformt wird. Sie gehört ebenso zum gar nicht so geheimen Lebenswissen unserer Zeit wie die anhaltende Sehnsucht nach einer unio mystica dieser Spaltprodukte in Liebe, Kunst oder Kontemplation. Pamuk erinnert an den islamisch mystischen Sufismus durchaus nicht nur ironisch. Wo und wie anders sollte ein derartig komplexes und rätselreiches Wissen, ohne dass es ideologisch ausgemünzt würde, zur Darstellung gelangen können als in den Künsten.
Erlauben Sie mir um der Deutlichkeit halber den ungeschriebenen basso ostinato meiner laudatio nun doch wenigstens anzudeuten. Die akademische Bildung ist wie noch nie seit ihrer Institutionalisierung in Gefahr, auf Ausbildung beschränkt zu werden. Entsprechend groß ist die Versuchung, ihre Wissensbestände und Formen des Lernens auf dieses Ziel hin einzuschränken und auszurichten. In dieser Situation den Künsten auch in der Universität Raum zu geben, geschieht in der Hoffnung, Wahrnehmungen und Erfahrungen zu Wort kommen zu lassen, die nur um den Preis einer existenziellen Lebensuntüchtigkeit ignoriert werden könnten. Die Freie Universität Berlin hat deshalb in den letzten Jahren zunehmend Autoren für längere oder kürzere Zeit eingeladen und auf vielerlei Weise zu Wort kommen lassen, von Vladimir Sorokin, Kenzaburo Oe und Robert Hass bis zu Günter Grass und Imré Kertész, Amit Chaudhuri und Salman Rushdie; zur Zeit ist es der Filmemacher aus Kuba Fernando Pérez. Bildung an Literatur ist dergestalt keine luxuriöse Ergänzung des Studiums wie früher Reiten, Fechten oder Tanzen, sondern Vergegenwärtigung der Borniertheit von bloß funktionaler Ausbildung und Bemächtigung von Lebenswissen.
In der literarischen Welt herrscht keine Demokratie. Jeder Autor ist Monarch, und seine Anhängerschaft ist immer aufs Neue promisk und schamlos in ihrer Neugier und Hingabebereitschaft. Das Wissen und die Lust, die jeder von ihnen bereitet, sind einmalig und unverwechselbar. In Orhan Pamuk begrüßen wir in der akademischen Gemeinschaft unserer Universität nicht einen prowestlichen Vorzeigetürken, sondern einen lebenskundigen, vorstellungsstarken und sprachmächtigen Dichter, der nicht seinesgleichen hat.
***