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Ansprache zur Urkundenverleihung

von Prof. Dr. Widu-Wolfgang Ehlers

Dekan des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften

Foto: Wannenmacher

Prof. Dr. Widu-Wolfgang Ehlers
Foto: Wannenmacher

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr verehrter Herr Reich-Ranicki,

bevor ich die Ehre und das Vergnügen habe, Sie mit dem Ehrendoktor des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin auszuzeichnen und Ihnen die Urkunde zu überreichen, sehen Sie mir bitte zunächst nach, dass ich vor Ihrem Namen keinen der Ehrentitel mitgesprochen habe, die Sie bereits besitzen, um sie geht es ja nicht, es geht um Sie.

Ob man die Kritik und die Kritiker schätzt oder nicht – es gibt sehr abfällige Bemerkungen gerade von Klassikern bis hin zur Anstiftung zum Mord und zwei Jahre vor Ihrem Wilmersdorfer Abitur wurde der Begriff der Literaturkritik untersagt und sollte durch Literatur- bzw. Kunstbetrachtung ersetzt werden – sie sind in dieser oder jener Form seit 2500 Jahren eine nicht wegzudenkende Kategorie des literarischen Lebens und Kritik wird wie ihr Gegenstand, die Literatur, in ganz unterschiedlicher Weise praktiziert. Die Trennung der aus vielen auch einsehbaren Gründen jedenfalls nicht immer aktuellen gelehrten Kritik – schon die antiken Literaturhistoriker haben lebende Autoren aus ihren Betrachtungen ausgeschlossen – und der (Zitat Jaumann) „organi-sierten Begleitung der Aktualität durch die Medien“ ist heute so selbstverständlich, dass sie jedenfalls jetzt weder kommentiert noch in Frage gestellt werden muss.

Es geht bei literarischer Kritik nicht in erster Linie um Kritik (wie immer wieder wider die Kritik und meist ad hominem behauptet wird), sondern um die Literatur. Jeder Autor, der nur oder vor allem von seiner literarischen Produktion lebt, ist nicht auf Leser in Bibliotheken oder im Internet, sondern auf Käufer angewiesen, die dann ja meist Leser werden (zumindest werden sollen). (Das gilt natürlich mutatis mutandis auch für Verleger.) Käufer lassen sich seit jeher nur über Empfehlungen und Werbung erreichen und man kann pauschal gesagt nur froh sein, dass die bestimmende öffent-liche und veröffentlichte Werbung für literarische Produkte durch die Literaturkritik stattfindet. Sehr vereinfacht also: Ohne Werbung und Verkauf keine Literatur. Die al-ten Zeiten, in denen Literatur von reichen Männern oder im Auftrag noch reicherer Männer geschrieben wurde, will keiner zurück. Kritik ermöglicht Literatur, Kritik weist literarischen Produkten ihren vorläufigen oder endgültigen Rang zu. Ob diese Zensuren sich sub specie aeternitatis halten lassen werden, ist eine heute Abend über-flüssige Frage, betrachtet man die Urteile und Fehlurteile der letzten Jahrtausende, führt aber zu Auseinandersetzungen ohne Ende, damit letztlich wieder in die gelehrte Literaturgeschichte und erfreulicherweise zu viel versprechenden Arbeitsmöglichkeiten künftiger Literaturwissenschaftler.

Sie, Herr Reich-Ranicki,  haben gezeigt, dass und wie man über Literatur öffentlich reden und urteilen kann – öffentlich in einem in der Vergangenheit ohne das Medium Fernsehen gar nicht vorstellbaren Umfang und – das steigert die Schwierigkeit – vor einem gemischten und anonymen Publikum. Diese Funktion haben Sie im letzten halben Jahrhundert einzigartig präsent exemplarisch ausgeübt – aufregend, anregend und absichtlich anstößig, voller Energie auch im Quartett auf Sieg spielend – und haben so zahllose Zusammenstöße verursacht, von Büchern und Lesern, die ohne Sie wohl nie in dieser Zahl zusammengekommen wären. Wenn es bei diesen Zusammenstößen von Büchern und Lesern gelegentlich hohl klingt, liegt es (wie ein früher Spezialist in Sachen literarischer crash test formulierte) nicht immer am Buch. Aber dieses weite Feld betrete ich auch nicht – grundlegend und entscheidend ist das Zustandekommen der Begegnung; was aus ihr wird, ist unvorhersehbar und entscheidet sich wie im wirklichen Leben am Ort und zur Zeit dieser Begegnung.

Wenn ich die Sache auf den Punkt bringen darf und Sie diese Zuspitzung erlauben: Sie waren und sind ein intellektuelles Partnervermittlungsinstitut und als kompetenter Liebhaber der Literatur, als sprachmächtiger Literat und als listenreicher Kuppler von Buch und Publikum ein im Rückblick auf das letzte halbe Jahrhundert nicht wegzudenkender Faktor des literarischen Lebens. Für diese so unmißverständliche wie unermüdliche, so liebevolle wie urteilende Tätigkeit im Interesse der deutschen Literatur danke ich Ihnen heute nicht nur im Namen des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften, sondern auch im Namen aller von Ihnen verkuppelten Bücher und Leser. Unser Zeichen dieses Danks und damit komme ich endlich auf Anfang und Anlass zurück, ist die Verleihung des Ehrendoktors.

Im Namen der Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin darf ich jetzt den Urkundentext verlesen, um dann die Verleihung der Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber durch die Überreichung der Urkunden an Sie abzuschließen – und dann Ihrer Kritik entgegenzusehen, die unter dem Titel Ihres Vortrags ja auch unterzubringen wäre: Berlin und ich.

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