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"Berlin und ich"

Festvortrag von Marcel Reich-Ranicki anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften am 9. Januar 2006.

 

- Die Rede wurde frei gehalten, der nachstehende Text folgt der Tonbandaufnahme -

 

Foto: Wannenmacher

Marcel Reich-Ranicki
Foto: Wannenmacher

Herr Präsident, Herr Dekan, Herr Laudator, meine Damen und Herren!

Man hat mich in diesen Tagen mehrfach gefragt, was denn der Ehrendoktor der Freien Universität Berlin für mich bedeute. Meine Antwort hat die Fragenden nicht recht zufrieden gestellt und eher verwundert. Ich sagte nämlich, ich sei als Kritiker von der deutschen Kultur der Zwanziger Jahre geprägt, und somit natürlich von der Kultur Berlins. Die Verwunderung ist verständlich, denn als ich 1929 aus Polen nach Berlin kam, war ich gerade neun Jahre alt – und als Hitler Reichskanzler wurde, war ich, alles in allem, zwölfeinhalb Jahre alt. Das Berlin, das ich erlebt habe, war somit das Berlin im Dritten Reich.

Dort habe ich meine ganze Jugend verbracht – bis zum Herbst 1938, als ich einige Monate nach dem Abitur verhaftet und nach Polen deportiert wurde. Aber ich meine, was ich vorher gesagt habe, ganz ernst: Mich hat tatsächlich in hohem Maße das Theater der Weimarer Republik geprägt, obwohl ich in der Weimarer Republik nur eine einzige Theatervorstellung gesehen habe. Das klingt mysteriös, ja widerspruchsvoll. Ich will es jetzt etwas vereinfachen, um es klar darstellen zu können.

Die erste und einzige Vorstellung, die ich in der Weimarer Republik gesehen habe, war Schillers „Wilhelm Tell“ im Herbst 1932. Wer stand in dieser beachtlichen und interessanten Aufführung auf der Bühne und was geht uns das heute an? Vielleicht doch ein wenig. Und vielleicht darf man gleich fragen, was aus diesen Schauspielern im „Dritten Reich“ geworden ist.

Den Arnold von Melchtal gab ein noch junger Schauspieler, der einige Jahre später als Filmregisseur sehr erfolgreich war und den niederträchtigsten Film gegen die Juden gedreht hat, der je produziert wurde, den „Jud Süss“. Er hieß Veit Harlan. Als Tell sah man Werner Krauss, der in diesem Film drei oder vier Juden spielte und deutlich bemüht war, den einen Juden noch widerlicher zu spielen als den anderen.

Die Frau des Tell war Eleonora von Mendelssohn, die aus der Familie des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy stammte. Sie musste 1933 emigrieren und hat sich später in den Vereinigten Staaten das Leben genommen. Der Darsteller jenes Konrad Baumgarten, der im ersten Akt des „Tell“ vor den Schergen des Landvogts flieht, war ebenfalls ein Jude: Alexander Granach. Sehr bald musste er selber fliehen – nach Amerika, wo er wenige Jahre später starb.

Den Johannes Parricida verkörperte Paul Bildt, der mit einer Jüdin verheiratet war. Nach deren Tod hat er, in Verwirrung geraten, mit seiner Tochter Selbstmord verübt. Nur er überlebte. Den Ulrich von Rudenz spielte Hans Otto, ein Kommunist, der sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Untergrund kämpfte. Im November 1933 wurde er in der Gestapohaft ermordet. Nach ihm wurde in DDR-Zeiten ein Theater in Potsdam benannt.

Diese Aufstellung, die man natürlich noch verlängern könnte, deutet die zeitgeschichtlichen Verhältnisse an, in denen das deutsche Theater ab 1933 existierte. Und es war ab 1933 eine Epoche des Verfalls des deutschen Theaters und zugleich einer Blüte – beides lief parallel.

Das Theater hatte sofort, kaum dass die Nazis an die Macht gekommen waren, enorme Repertoire-Schwierigkeiten. Die meisten neueren deutschen Dramatiker durften nicht mehr gespielt werden, weil sie Juden oder jüdischer Herkunft waren – wie Carl Sternheim, Arthur Schnitzler, Hofmannsthal oder Ferdinand Bruckner, weil sie Gegner des Dritten Reichs waren und Emigranten – wie Brecht, Horvath oder Georg Kaiser, oder weil sie als „entartet“ galten – wie Wedekind, Barlach oder Marieluise Fleisser. Das zwang die Intendanten der wichtigsten Bühnen, vor allem auf die Klassik auszuweichen von Aischylos bis Bernard Shaw, von Lessing bis Gerhart Hauptmann. Auch da gab es Schwierigkeiten, denn Stücke, die mit Juden zu tun hatten, waren verboten – also etwa Lessings „Nathan der Weise“ oder Hebbels „Judith“.

Aber man kann nicht ein Theater nur mit Klassikern aufrechterhalten. So versuchten die Intendanten, vom Archiv der Theatergeschichte zu profitieren. Man spielte allerlei Boulevardstücke und einst berühmte, doch längst verstaubte Reisser – wie etwa Scribes „Glas Wasser“, Dumas’ „Kameliendame“ oder den „Raub der Sabinerinnen“ von Franz Schönthan.

Andere Schwierigkeiten waren entstanden, weil die führenden deutschen Regisseure mit Max Reinhardt an der Spitze emigrieren mussten – und das gilt auch für viele der besten Schauspieler, etwa Fritz Kortner, Elisabeth Bergner, Ernst Deutsch, Albert Bassermann, Therese Giehse oder Helene Weigel.

Natürlich hat das alles zu einem unübersehbaren Verfall des Theaters geführt. Und doch gelang es gleichzeitig, vorwiegend in Berlin, ein blühendes Theater zu organisieren, zumindest in einigen Häusern. Dies war das Werk vor allem eines jungen, 1934 kaum vierunddreißig Jahre alten Schauspielers und Regisseurs – das Werk von Gustaf Gründgens. Er machte in dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und etwas später in zwei weiteren an das Schauspielhaus angegliederten Bühnen hervorragendes Theater. Das gilt auch für Heinz Hilpert, der das Deutsche Theater und die Kammerspiele leitete. Hervorragende Theaterkunst mitten im Dritten Reich? Wie war das möglich?

Beide, Gründgens und Hilpert, waren vorzügliche Repräsentanten der Theaterkultur der Weimarer Republik – und sie führten diese Kultur auf ihre Weise im „Dritten Reich“ fort. Hilpert war als Regisseur die rechte Hand von Max Reinhardt gewesen. Er machte im Deutschen Theater und in den Kammerspielen in der Schumannstraße das Reinhardt-Theater weiter – vielleicht bescheidener und jedenfalls weniger spektakulär.

Alle Theater unterstanden Goebbels, mit Ausnahme der Theater in Preußen, für die der preußische Ministerpräsident zuständig war, also Göring. Zwischen Goebbels und Göring gab es in Sachen Theater einen etwas kindischen Konkurrenzkampf: Göring wollte Goebbels beweisen, dass die ihm unterstehenden Theater die besten in Deutschland seien. Das ist ihm schließlich gelungen, dank Gründgens, den er konsequent förderte und den Goebbels misstrauisch und skeptisch beobachtete.

Göring ermöglichte es Gründgens, die besten deutschen Schauspieler im Haus am Gendarmenmarkt zu beschäftigen. Vor allem: Gründgens (und nur Gründgens!) durfte Schauspieler engagieren und damit retten, die in Ungnade gefallen und gefährdet waren – weil ehemalige Kommunisten, weil ein bisschen jüdisch, weil jüdisch „versippt“ oder weil sie der Gestapo aus irgendwelchen anderen Gründen missfielen.

Ich habe die Kultur der Weimarer Republik im Dritten Reich ziemlich genau kennen lernen können. Da waren ja die Schallplatten, da waren die Bücher, da waren die Programmhefte noch da. Und ich las das, was mich faszinierte, und was bis heute die Kultur der Weimarer Republik repräsentiert. Ich las Verse von Brecht und Kästner, Feuilletons und Reportagen von Tucholsky, Joseph Roth und Egon Erwin Kisch, Kritiken von Alfred Kerr. Ich hörte die Songs der „Drei-Groschen-Oper“ und aus dem Film „Der Blaue Engel“. Ich hörte die Stimmen, die ich dann immer wieder hörte: von Marlene Dietrich, von Lotte Lenya, von Richard Tauber, von Ernst Busch – auch in den schlimmsten folgenden Jahren. Ich sah die Zeichnungen von Grosz und die Fotomontagen von John Heartfield. Natürlich las ich auch die Romane, die in der Weimarer Republik entstanden sind und eine wichtige Rolle spielten – vom „Zauberberg“ bis hin zum „Alexanderplatz“.

Wie sah dieser wechselseitige Prozess – die Literatur, die mich zum Theater trieb, und das Theater, das mich wiederum zur Literatur trieb – im Dritten Reich aus? Ich ging in Theater, auf deren Programmheften das Hakenkreuz zu sehen war. Ich ging in Opernvorstellungen, bei denen man im Programm las: „Die Hochzeit des Figaro – eine Oper von Mozart“. Und? Ist der Text vom Himmel gefallen? Wer den Text geschrieben hatte, durfte nicht erwähnt werden, denn Lorenzo da Ponte war Jude. Also wurde er verschwiegen, und weder bei „Don Giovanni“ noch beim „Figaro“ wurde der Name genannt.

Was suchte ich im Theater und in der Oper? Zunächst: Diejenigen, die großes Theater machten – und ich werde nachher von Gründgens sprechen, weil er die interessanteste und wichtigste Figur dieser Epoche ist – diejenigen also, die Theater machten, haben natürlich durch ihre Existenz, durch das Theater, durch die Oper dem Dritten Reich gedient – kein Zweifel. Sie trugen dazu bei, dass das Dritte Reich sich präsentieren konnte als eine Macht, die Kultur förderte. Aber sie haben zugleich sehr vielen Menschen, die im Dritten Reich lebten, Beistand und Zuflucht geboten. Für die Berliner Philharmoniker mit Furtwängler an der Spitze gilt dasselbe.

Deutsche Literatur und deutsches Theater wurden in jenen Jahren für viele, auch für mich, zum Asyl. Für einen Juden mitten in Berlin zu einem Elfenbeinturm, in dem sich dieses Kulturleben der Weimarer Republik, so weit es ging, noch fortsetzen ließ. Wenn dieses Theater in Berlin also gut war – ich spreche vom Theater bis Ende 1938, das ich noch gesehen habe – so war es der Geist der 20er Jahre, der hier wirkte, und die Tatsache, dass der Verlust der Schauspieler durch andere gute Schauspieler ausgeglichen wurde, die man in Berlin konzentrierte und die für die Provinz-Städte nicht mehr zur Verfügung standen. Suchte ich im Theater etwa das andere Deutschland? Nein, eher eine Gegenwelt.

Etwa in den Jahren 1936/37 geschah etwas Ungewöhnliches: Die führenden Theater in Berlin begannen ein wenig und gleichsam unter der Hand, gegen das Dritte Reich zu wirken. Das war eine außergewöhnliche Sache – vielleicht unter dem Einfluss der Olympischen Spiele und der vorübergehend etwas liberaleren Zeitperiode. Die antisemitische Propaganda war ja in Berlin und anderen Städten plötzlich verboten, die roten Stürmerkästen wurden alle abmontiert, aber kurz nach den Olympischen Spielen natürlich wieder an die Wände montiert.

Was war passiert? Man versuchte, klassische Dramen so darzubieten, dass sie als Widerstandsleistungen gegen das Dritte Reich bewertet werden konnten. 1937 spielte man im Deutschen Theater an der Schumannstraße „Don Carlos“. Im dritten Akt fällt wie üblich Marquis Posa auf die Knie und ruft den etwas sinnlosen Satz: „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Warum Schiller das nicht besser formuliert hat, weiß ich bis heute nicht, denn Gedankenfreiheit hat jeder. Darum muss man weder König Philip noch Adolf Hilter bitten. Was Schiller und Marquis Posa meinten, ist: „Geben Sie die Möglichkeit, Gedanken zu äußern, geben Sie uns die Freiheit, Gedanken zu formulieren und zu artikulieren.“ Man spielte den „Don Carlos“ im Deutschen Theater, Ewald Balser den Marquis Posa, der auf Knien ruft: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ – mit einem riesigen Beifall. Der Beifall dauerte vier oder fünf Minuten. Man sagte, das sei eine große Demonstration gegen das Dritte Reich gewesen. Aber Goebbels und Rainer Schlösser, der oberste Theaterpolitiker, waren klüger und fragten: „Was ist denn los? Als der „Don Carlos“ uraufgeführt wurde, hat man auch an dieser Stelle geklatscht. Was stört uns das, wenn die Leute immer an dieser Stelle klatschen? Weiterspielen lassen!“

Das Stück wurde noch 39 Mal in Berlin gespielt. Aber man hatte sich gefreut. Das Stück war vielleicht eine minimale Widerstandsleistung.

Im selben Jahr wurde „Richard der Dritte“ in einer Fehling-Inszenierung mit Werner Kraus am Gendarmenmarkt gespielt. Ich war dabei. Es war eine Inszenierung, die mich sehr beeindruckt hatte, und die ich heute als etwas Lächerlich-Läppisches empfinde. Werner Kraus humpelte auf der Bühne von einem Ende zum anderen, so steht es auch bei Shakespeare. Dass das gegen Goebbels gerichtet war, weil auch er humpelte, ist leicht übertrieben. Aber es gab keinen Zweifel, dass man bestimmte Stellen im Shakespeare-Text, die gegen die Grausamkeit und den Terror der Machthaber gerichtet waren, besonders akzentuierte. Aber es ging noch weiter. Die Wächter um „Richard den Dritten“ trugen lederne, schwarze und braune Uniformen. Man musste blind sein, um nicht zu sehen, dass das eine Anspielung auf die SA und die SS war.

Es wurde dann im Jahre 1937 Mode, in klassischen Werken mit solchen Anspielungen etwas gegen das Dritte Reich zu tun. Ich habe das zitternd mit angesehen und Angst gehabt, was daraus werden würde und ob hier nicht menschliches Leben riskiert wird. Ich habe mir etwas bei der Akzentuierung bestimmter Stellen in klassischen Texten gedacht: Diejenigen, die das verstehen, waren ohnehin gegen die Nazis. Man hat damit also nicht viel erreicht. Man hat die Freiheit und das Leben von Schauspielern und Regisseuren riskiert, ohne irgendetwas bewirken zu können.

Man hat im damaligen Theater einen Autor viel gespielt, der ganz überraschend in Deutschland zum Modeautor wurde: Gerhart Hauptmann. Hauptmann wurde freigegeben. Von den „Webern“ abgesehen, konnten alle seine Stücke gespielt werden, und ich selber habe ihn in der Loge bei der Premiere seines Stücks „Die Jungfern vom Bischofsberg“ gesehen – und Hauptmann hob neben Göring und unter enormem Beifall die Hand zum Hitlergruß. Es war ein etwas erschütternder Anblick.

Der Autor, der am meisten aufblühte, den man unentwegt spielte, war ein anderer: Shakespeare. Immer, wenn es ganz schlimm ums deutsche Theater bestellt ist, spielt man Shakespeare. Wir wissen auch: Das ist ein so ungewöhnlicher Autor der Weltliteratur, dass ihn niemand kaputt machen kann. Nicht einmal die deutschen Regisseure. Das haben wir auch in den letzten zwanzig Jahren oft erlebt.

Was bleibt von Kunst? Robert Musil hat einmal darauf geantwortet: „Wir als Geänderte bleiben.“ Das ist schon unendlich viel, mehr ist nicht zu erreichen. Ich habe das mit Shakespeare im Dritten Reich erlebt, als ich „Romeo und Julia“ zum ersten Mal in meinem Leben gesehen habe, ohne vorher das Stück gelesen zu haben. Ich war völlig stumm nach diesem Erlebnis, weil ich zum ersten Mal begriff, was Liebe ist. Ich glaube, das hat niemand stärker, besser und intensiver gezeigt als Shakespeare in „Romeo und Julia“.

Mein zweites, noch wichtigeres Erlebnis in jener Zeit war „Hamlet“. Ich habe den „Hamlet“ in vielen Sprachen und vielen Ländern gesehen, aber das größte Hamlet-Erlebnis meines Lebens war der „Hamlet“ von Gründgens. Gründgens ist eine ungewöhnliche, heute noch unterschätzte Figur des Dritten Reichs. Er war Intendant und schließlich sogar Preußischer Staatsrat. Seine Leistungen will ich hier nur kurz erwähnen: Er hat das Leben vieler Menschen gerettet, er hat, um nur ein Beispiel zu nennen, das Leben von Ernst Busch mit absoluter Sicherheit gerettet. Er hat es gewagt, derartiges zu tun, obwohl er homosexuell war. Das heißt, dass er in der Hand des Dritten Reichs war und jederzeit erpresst und rausgeschmissen werden konnte. Obwohl ihn Göring beschützt hatte, konnte er doch nie die Sicherheit haben, dass ihm nichts passieren werde, weil Goebbels es gerne gesehen hätte, wenn man Gründgens rausgeschmissen hätte.

Warum hat mich der Hamlet so außerordentlich tief beeindruckt? Ich war damals 16 Jahre alt und ich sah ein Stück, in dem ich meine Situation wieder erkannt habe. Wir sind ja immer glücklich, wenn wir in Romanen oder Bühnenstücken unser Schicksal wieder erkennen. Ich habe es wieder erkannt dank der Leistung von Gründgens. Er war der Schauspieler, den ich in meinem ganzen Leben am meisten bewundert habe – diesen Preußischen Staatsrat mitten im Dritten Reich. Wenn der Begriff Asphaltkultur oder Asphaltliteratur auf einen Schauspieler hätte bezogen werden können, dann war es ohne Zweifel Gründgens. Er war in jener Epoche der „Anti-Typ“ der Zeit. Mit Blut und Boden hatte seine Arbeit als Schauspieler und Regisseur rein gar nichts zu tun. Nicht Blut und Boden verkörperte er, sondern das Morbide, das Zwielichtige, das Anrüchige. Nicht die Helden spielte er, die Gläubigen, sondern die Gebrochenen, die Degenerierten, die Schillernden, die Neurotiker. Seine anti-heroische Haltung, seine Vorliebe für die Zweifler, für die Ironiker, die Skeptiker – damit wollten die Nazis nichts zu tun haben. Er hat also widerlegt, was sie anstrebten. Was die Nazis laut verkündeten, hat er mit seiner Arbeit als Schauspieler immer wieder widerlegt. Vor allem im „Hamlet“.

Warum hat mich dieser „Hamlet“ von Gründgens so tief persönlich getroffen wie kaum eine Theatervorstellung in meinem ganzen Leben – auch nicht der „Faust“ mit Gründgens als Mephisto, obwohl das eine Glanzleistung war? Vor dem Krieg und nach dem Krieg habe ich ihn gesehen. Gründgens spielte den Hamlet als einen passionierten Bücherleser und Theaterenthusiasten. Gründgens hat die berühmten Worte „Die Zeit ist aus den Fugen“ und „Ganz Dänemark ist ein Gefängnis“ ganz stark akzentuiert – ja, er ist sogar in manchen Vorstellungen nach vorne an die Rampe gegangen, um es für jeden im Saal verständlich zu sagen: Er meine nicht Dänemark, er meine Deutschland.

Gründgens zeigte als Hamlet, dass in diesem Königreich ein Polizeistaat existierte, in dem sich alle gegenseitig bespitzeln. Polonius schickt seinen Sohn Laertes nach Paris, und gleich werden zwei Leute hinterhergeschickt, die mit ihm aufgewachsen sind: Rosenkranz und Güldenstern, die ihn ausspionieren sollen. In diesem Staat, wie ihn Gründgens zeigt, vertraut niemand niemandem. Die Mutter und Königin wird, wo sie mit Hamlet reden soll und auch schließlich redet, hinter einem Vorhang von Polonius bewacht. Der Hamlet von Gründgens war ein Hamlet, der seiner Epoche hoch überlegen und andererseits doch nicht gewachsen war. Das ist das Unerhörte, das Dramatische gewesen. Nachdem ich Gründgens’ „Hamlet“ gesehen hatte, habe ich das Stück ganz anders gelesen. Jede Szene des Stückes. In dieser dekadenten Figur sah ich mein eigenes Schicksal gespiegelt, als Jude mitten im Dritten Reich. Ich glaubte es zu erkennen, und seitdem liebe ich es wie nur noch ein Drama in der Weltliteratur: den „Faust“.

Aber aus jener Zeit im Dritten Reich sind nicht nur wichtige Theatereindrücke in meinem Gedächtnis geblieben. Ich habe auch ein anderes Erlebnis gehabt, das ich nie vergessen werde und das auf einer ähnlichen Basis zu sehen ist. Es war Anfang 1937, als ich von einem älteren Freund und Verwandten gebeten wurde, an einem Abend in eine Villa zu kommen. Da wurde den vielleicht acht oder zehn versammelten Personen etwas vorgelesen. Etwas, was man nicht öffentlich lesen konnte. Keiner von uns wusste, zu welchem Zweck wir zusammengerufen wurden. Gelesen wurde jener Brief Thomas Manns an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn: die Erwiderung auf die Aberkennung der ihm einst verliehenen Ehrendoktorwürde. Jener Brief, in dem der so wunderbar formulierte Satz steht: Die Nationalsozialisten haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln, wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volk das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.“

Das war ein ganz großes Erlebnis für mich. Wir wussten ja, dass Thomas Mann in der Schweiz ist, aber er hatte nicht endgültig mit dem Dritten Reich gebrochen. Erst dieser Brief war diese Entscheidung. Ich muss Ihnen sagen, dass mich dieser Brief beglückt hat. Tatsächlich beglückt hat. Ich liebe Thomas Manns Prosa seit meiner Jugend, seit ich „Tonio Kröger“ und die „Buddenbrooks“ gelesen habe. Die Angst war enorm, er könne sich vielleicht so wie Gerhart Hauptmann verhalten, nach Deutschland zurückkehren und hier ruhig und zurückhaltend leben. Wir wissen auch, wie seine Familie kämpfte, dass der Vater sich entscheiden müsse. Und er hat sich entschieden. Ich habe damals etwas geahnt, aber noch nicht begriffen. Deutschland wird im 20. Jahrhundert durch zwei Figuren personifiziert: Adolf Hitler und Thomas Mann. Und ich habe später erst begriffen, dass es ein Unglück für Deutschland wäre, wenn man einen von beiden vergessen oder verdrängen wollte.

Das alles ist Berlin. Das waren meine wichtigsten Erlebnisse in Berlin. Ende 1938 bin ich in Berlin in der Spichernstraße verhaftet und nach Polen deportiert worden. Thomas Mann und Adolf Hitler. Ich glaube, ich habe beide begriffen, verstanden. Ich weiß, was ich Berlin zu verdanken habe. Ich habe nach dem Krieg Gründgens in Berlin auf der Bühne gesehen und später in Hamburg. Leider hatte ich nicht den Mut, mit ihm zu sprechen. Ich war in Deutschland noch vollkommen unbekannt und hatte Angst, zu ihm zu gehen. Wäre ich doch zu ihm gegangen, dann hätte ich ihm sagen müssen, dass ich ihm mehr verdanke als irgendeinem anderen Schauspieler. Und dass ich seine Haltung im Dritten Reich, wiewohl er von Görings Gnaden Preußischer Staatsrat war, bewundert habe und nach wie vor bewundere.

Meine Damen und Herren, das sind einige Punkte meines Verhältnisses zu Berlin, zu dem, was ich in Berlin gesehen, was ich in Berlin gelernt habe. Das Theater in Berlin hat in diesen Jahren zur politischen Aufklärung nichts beigetragen, aber das Theater hat – ähnlich wie die Literatur – etwas ganz anderes geboten, etwas unendlich Wichtiges. Ich möchte das Kräftezuwachs nennen. Dass man, wenn man sich einsam und unglücklich fühlt, etwas weniger einsam und unglücklich fühlen kann, nachdem man ein Drama von Schiller oder Goethe auf der Bühne sah, und hörte, was die Philharmoniker spielten. An all das denke ich, wenn ich mir die Frage stelle, was ich damals erlebt habe. Wäre ich in München, Hamburg, Wien oder Zürich aufgewachsen – ich wäre auch Kritiker geworden. Aber ich wäre ein anderer Kritiker, als ich es geworden bin, weil ich in dieser deutschen Welt immer noch von der Weimarer Republik profitierte.

Dass ich jetzt den Ehrendoktor der Freien Universität Berlin erhalte, freut und beglückt mich sehr. Ich danke Ihnen.

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