Grußwort von Prof. Dr. Dieter Lenzen
Präsident der Freien Universität Berlin
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr verehrter Herr Reich-Ranicki,
sehr verehrte, liebe Frau Reich-Ranicki,
sehr verehrte Gäste,
Wir freuen uns, dass Sie da sind. Wir freuen uns, dass Sie augenscheinlich bei recht guter Gesundheit sind. Wir freuen uns, weil die Verleihung der Ehrendoktorwürde, die der Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften heute vornimmt, ein ganz besonderes Ereignis für diese Universität ist. Wir freuen uns, weil diese Freie Universität auch durch die wissenschaftliche Würdigung Ihres Werkes dokumentieren kann, welche Ungeheuerlichkeit es war, dass die Friedrich-Wilhelms-Universität 1938 das Immatrikulationsgesuch des Berliner Abiturienten Marcel Reich-Ranicki ablehnte. Ich freue mich, weil ich neugierig bin, zu erfahren, ob sich hinter der Absicht des Germanistikstudiums für Sie eine berufliche Vorstellung verband. Wollten Sie etwa Deutschlehrer werden, oder Lektor, oder Verleger, oder Journalist, oder Schriftsteller, oder immer schon Kritiker? Ich hoffe, Sie haben Nachsicht mit der sozialisatorischen Investigationsneugier eines Bildungswissenschaftlers. Wir jedenfalls wissen heute: Sie sind alles dieses geworden, Deutschlehrer, Lektor, Verleger, Journalist, Schriftsteller und eben nicht nur Kritiker.
Aber was heißt „nur“? Ich bin gefragt worden, was Literaturkritik eigentlich mit Literaturwissenschaft zu tun habe. Journalisten interessieren sich zu Recht für eine solche Frage. Ich habe auf die Laudationes des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften verwiesen, die wir nachher hören werden, aber auch darauf, dass dieser vorbildliche Fachbereich glücklicherweise Philosophie und Geisteswissenschaften in sich vereint. In einem solchen intellektuellen Ambiente liegt es auf der Hand, darauf hinzuweisen, dass Kants „Kritik der Urteilskraft“ mit ihrer Negation des ästhetischen Urteils als eines wissenschaftlichen eine Revision durch den frühromantischen Friedrich Schlegel erfahren hat. Kritik, so hat Walter Benjamin Schlegels Position zugespitzt, betrachtet dieser als „Reflexion im Medium der Kunst“. Hatte doch Schlegel selbst geschrieben: „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ Ist Marcel Reich-Ranicki also ein Poet? Schlegel folgend: Ja, denn die Ästhetik der Kritik finde sich im Kunstgedicht, der Literatursatire, im Essay und im Fragment. Wer Reich-Ranicki kennt, weiß, dass er mindestens zwei dieser Formen zur Meisterschaft getrieben hat. Muss man hinzufügen, dass Schlegel diese Kunst der Literaturkritik wörtlich in der Vermittlung von Ironie, Witz und Humor gesehen hat, in der sie sich selbst annihilierte? Wir sehen Sie vor uns, Herr Reich-Ranicki, und begreifen, dass die Popularität Ihrer Literaturkritik, insbesondere in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, sich nicht der Meisterschaft in weltläufiger Spaßmacherei verdankt, sondern, Schlegel folgend, eine Utopie einlöst, denn in der durch Ironie, Witz und Humor charakterisierten Kritik der Kunst gewinnt diese ihre verlorene Objektivität und Verbindlichkeit zurück. Davon war Schlegel zutiefst überzeugt. Warum ist das so? Weil, so Schlegel noch einmal, das Kunstwerk zu seiner Selbstvollendung der Kritik bedarf. Insofern sei die Literaturkritik die „Mutter der Poetik“.
Ich weiß nicht, verehrter Herr Reich-Ranicki, ob Ihnen diese mütterliche, maternale Funktionszuweisung genehm ist, aber aus dem Strom auch der Philosophiegeschichte kann man sich nicht umstandslos lösen, und es gibt wahrlich schlechtere Traditionen als die der Frühromantik. Ich sehe Sie nicht ohne gewisse Erleichterung dort, aber vielleicht mögen Sie mich unter Rückgriff auf den von Ihnen kenntnisreich bearbeiteten Heinrich Heine zurechtweisen, dass mit dessen Diktum vom „Ende der Kunstperiode“ für die Kritik der Literatur kein Platz zwischen Philosophie und Historie mehr sei. Dann wären Sie ein Literaturhistoriker derart, wie Gervinus 1833 diesem das Recht zur ästhetischen Kritik bereits absprach und ihm die Arbeit am Verstehen der Literatur „aus der Zeit, aus dem Kreise ihrer Idee, Taten und Schicksale“ zugewiesen hat. Aber auch dann, wenn Sie, was ich nicht so recht glauben mag, diese Alternative wählen würden zu Ihrer Selbstbeschreibung, Sie wären wieder mitten unter uns, mitten im Selbstkonzept neuzeitlicher Geisteswissenschaften, die von der Kulturhermeneutik bis zur systemtheoretischen Analyse kultureller Wandlungsprozesse viel zu bieten hat.
Seien Sie als noch einmal herzlich willkommen in dieser unserer Freien Universität. Seien Sie alle herzlich willkommen an diesem Tage, den wir nicht beenden werden, ohne einen neuen Ehrendoktor in unseren Reihen zu haben, zwischen Literaten wie Imre Kertész oder Carlos Fuentes, Weltpolitikern wie Kofi Annan oder Robert Kennedy, Theologen wie Leo Beck oder Paul Tillich, Denkern wie Erwin Panowski oder Leo Löwenthal. Seien sie mit uns, wir sind mit Ihnen, erwartungsvoll.
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