"Über Kritzeln"
Das Plakat zur Tagung mit dem Programm steht hier als PDF zum Download bereit.
Kritzeleien scheinen ein Phänomen des Peripheren. Anzusiedeln in den (sich überschneidenden) Randbezirken von Schrift und Bild, sind sie noch nicht oder nicht mehr lesbar, verwirren und faszinieren durch ihr affektiv-dynamisches Potential und sind mit vertrauten Rezeptionsmustern und Taxonomien kaum zu erfassen. So werden sie oft nur in Begriffen des Negativen beschrieben, ohne sich darin zu erschöpfen. Die Unlesbarkeit und Unterdetermination hingekritzelter Linien befördert im Gegenteil die Beschäftigung mit ihnen stets von neuem: Sie treten als Rätsel, Abfallprodukt und Nukleus des Kreativen zugleich auf. Hat man Kritzeleien erst einmal von der Peripherie weg ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, können sie zudem, gerade indem sie gewohnte Kategorien der Wahrnehmung verfehlen oder stören, deren Prämissen aufzeigen. Sie verweisen auf die Gestik und Materialität des Schreibens und Zeichnens, das jederzeit ins Kritzeln hinübergleiten kann. Ihr selbstreflexives Potential zeigt sich besonders an Punkten, an denen der gewohnte Umgang mit Federn, Stiften, Worten und Linien misslingt. In der Literatur-, der Kunstgeschichte und der Philosophie wurde das Kritzeln oft mit dem schöpferischen Prozess, dem Unbewussten, mit der fließenden Schrift der Natur und mit dem Animalischen (die Klaue, das Spinnennetz) in Verbindung gebracht und fand so auch immer wieder motivisch und metaphorisch Eingang in die Kunstwerke selbst.
Die Tagung „Über Kritzeln“ möchte sich innerhalb dieses Rahmens mit konkretem Kritzelmaterial ebenso wie mit entsprechenden Theorien beschäftigen, um von dieser Seite aus die vertrauten Kategorien von Schrift, Bild, Text und Zeichen in Frage zu stellen, zu diskutieren – sie gleichsam zu überkritzeln und womöglich gerade damit neu in den Blick zu nehmen.
Anlässlich des 5. Geburtstags des Literaturmuseums der Moderne veranstaltet das Graduiertenkolleg „Schriftbildlichkeit“ am 6. Juni 2011 einen Workshop „Über Kritzeln“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach.
PROGRAMM
Montag 6. Juni 2011, Deutsches Literaturarchiv, Marbach
10:00 |
Begrüßung |
10:15 – 11:00 |
Hans-Jörg Rheinberger (Berlin): Papierpraktiken im Labor |
11:15 – 13:00 |
Omar Nasim (Zürich): Scribblings in Space Rüdiger Campe (Yale/New Haven): Kritzeleien im Sudelbuch. Zu Lichtenbergs Schreibverfahren |
14:30 – 16:00 |
Rea Köppel (Berlin): ÜberDruck. Vom Kritzeln in Bücher Christian Driesen (Berlin): écriture rose | rose de personne. Simon Hantaïs Schriftbilder |
16:00 |
Führung durch die aktualisierte Dauerausstellung |
Donnerstag, 9. Juni, Freie Universität Berlin
18:00 |
Rüdiger Campe (Yale/New Haven): Kritzeleien im Sudelbuch. Zu Lichtenbergs Schreibverfahren. |
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anschließend Empfang |
Freitag, 10. Juni, Freie Universität Berlin
10:00 |
Begrüßung und Einführung |
10:30 – 12:00 |
Almuth Grésillon (Paris): Funktionen von Kritzeleien in literarischen Handschriften Michael Grote (Bergen): Über die allmähliche Verfertigung der Laute beim Sprechen. Sprachblätter und Lautprozesse von Carlfriedrich Claus |
12:15 – 13:00 |
Richard Shiff (Austin): Starred, Studded, Scribbled |
14:30 – 16:00 |
Barbara Wittmann (Weimar): Squiggle Games. Kritzeln als Formfindungsmethode Stefan Rieger (Bochum): Kritzeleien. Zur Gegenstandsfreiheit der Form |
16:30 – 18:00 |
Alexander Schwan (Berlin): „Dancing is like scribbling, you know.“ Schriftbildlichkeit in Trisha Browns Choreographie Locus Benjamin Meyer-Krahmer (Leipzig): On Scribbling in the Manuscripts of Charles Sanders Peirce |
Samstag, 11. Juni, Freie Universität Berlin
10:30 – 12:00 |
Bettine Menke (Erfurt): Kritzel - (Lese-)Gänge Friedrich Weltzien (Potsdam): Zig zag, liberté. Die Geburt des Comics als entfesselte Arabeske |
12:30 – 14:00 |
Thomas Schestag (München): „Diese Hand...“: Walter Benjamin kritzelt Stephan Kammer (Düsseldorf): „Handschriftbejahung“. Robert Walser kritzelt nicht |