Teilprojekt A07
Ritual und Risiko. Zur Performativität des Spiels zwischen Kulturanthropologie, Religion und Kunst
Projektleitung: Prof. Dr. Renate Schlesier
Laufzeit: 10/2003-12/2010
Das Teilprojekt setzte sich zum Ziel zu zeigen, dass das Risiko (thematisiert oder verschwiegen, als Strategie der Risikoprovokation oder der Risikovermeidung eingesetzt) eine ‚Schlüsselkategorie‘ zum Verständnis spezifischer (religiöser, künstlerischer) Aufführungen, literarischer Texte und (wissenschaftlicher) Konzeptualisierungen sozialer, religiöser oder künstlerischer Rituale bzw. ritualisierter Spiele darstellt. Vor diesem Hintergrund muss das Risiko als ein wesentliches Proprium von Ritualen, als produktives Movens und als Reflexionsgegenstand verstanden werden, also nicht etwa allein als Synonym für Unsicherheit. Daher konnte von uns eine Facette des Risikobegriffs erschlossen werden, die bislang weder von der Risikoforschung noch auch von Theorien des Performativen fokussiert worden ist. Dies wird zukünftig auch an weiteren Materialien erneut erprobt bzw. vertieft werden können, und zwar sowohl in Arbeiten der Projektmitarbeiter als auch in Arbeiten anderer Forscher, die den von den Projektergebnissen ausgehenden Anregungen folgen.
Das übergreifende Ziel der Teilprojektarbeit in der letzten Förderphase war es, aus wissenschaftshistorischer und religionsanthropologischer Perspektive Konstruktionen des Rituals bzw. des rituellen Spiels in Hinblick auf Konzepte des kulturellen Wandels und der Zukunftsgenerierung zu analysieren. Im Fokus standen genuin religiöse Rituale, ihre Transformationen in künstlerische Prozesse sowie ihre wissenschaftliche Diskursivierung und Theoretisierung, und zwar mit Blick auf die Bereiche Performativität und Ästhetik des Risikos in Spiel und Ritual. Es galt weiterhin die grundlegende Prämisse, dass (ludische) Rituale und (ritualisierte) Spiele durch den Einsatz (das ‚enjeu‘), den sie fordern, als riskante performative Prozesse ausgewiesen sind. Dieses impliziert sowohl die Potentialität des Scheiterns ritueller Handlungen als auch die Möglichkeit des intendierten Risiko-Handelns bzw. der Risiko-Provokation, wodurch Fragen nach den spezifischen Grenzen und Wirkungsbereichen menschlicher ‚agency‘ und somit nach performativ erzeugter Kontingenz formulierbar werden. Die auf einem historisch breiten Spektrum – von der Antike bis zur Moderne – fußenden Untersuchungen des in diesem Kontext von der Forschung bislang vernachlässigten Risikoaspekts in Spiel und Ritual zielten vor allem auf eine kritische Überprüfung der Tragfähigkeit und Reichweite der bis dato existierenden Konzepte des Performativen, mithin auf eine ritualtheoretische Historisierung des Performativitätskonzepts selbst. Zur Vertiefung unserer Fragestellungen traten in der letzten Förderphase zwei Aspekte in den Vordergrund: Zum einen lag der Fokus auf der zeitlichen Modalität von Spiel- und Ritualverläufen, zum anderen auf der Produktion zerstörerischer oder gewaltsamer Potentiale. Damit verband sich die Frage nach den spezifischen Modi wissenschaftlicher und künstlerischer Reflexion der Bedingungen von Veränderungen und kulturellem Wandel, da gerade Rituale durch Reflexion und Transformation des Vergangenen je unterschiedliche Bearbeitungen des Zukünftigen entwerfen.
Das historisch erst spät begrifflich belegte Konzept des Risikos wurde von uns heuristisch verwendet, das heißt, Risiko wurde nicht einschränkend als Spezifikum eines erst neuzeitlich generierten Sonderfalls von Unsicherheitshandeln gefasst, sondern als anthropologisches Charakteristikum erfinderischen Handelns oder Nicht-Handelns, als produktives Movens und als Reflexionsgegenstand. Entgegen der vielfach vertretenen These, Rituale dienten in erster Linie der Herstellung von Ordnung und Konsens, akzentuierte das Teilprojekt die Unberechenbarkeit und Emergenz ritueller Prozesse, die als Teil von deren performativer Verfasstheit angesehen wurde. Damit ging die Projektarbeit über die vor allem vom Heidelberger SFB 619 formulierte Prämisse der dem Ritual inhärenten Dynamik hinaus, da das Augenmerk speziell auf das experimentelle, mit dem Risiko spielende sowie auf das zerstörerische Potential ritueller/ludischer Konstellationen gelegt wurde: Rituale, Ritualisierungen und die wissenschaftliche Beschäftigung setzen ordnungsstiftende Elemente häufig bewusst außer Kraft zugunsten einer Provokation von Risiko. Daher, so eines der Ergebnisse, sind praktische und theoretische Risiken als Teil des Rituals zu verstehen und zu analysieren.
Projektrelevante Publikationen der letzten Förderphase:
Mario Bührmann: Das Spiel mit dem Risiko. Theorien des Rituals und des Performativen in religionsanthropologischer Perspektive, Würzburg: Königshausen u. Neumann 2018 (in Vorbereitung).
Mario Bührmann: Das Labor des Anthropologen. Anthropologie und Kultur bei David Hume, Hamburg: Meiner 2008.
Renate Schlesier/Ulrike Zellmann (Hg.): Ritual als provoziertes Risiko, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.
Mario Bührmann: „Culture and Rites in Motion. The Conception of Culture and Ritualistic Actions in the Works of Edward Burnett Tylor“, in: Udo Simon (Hg.): Reflexivity and Discourse on Ritual, Wiesbaden: Harrassowitz 2010, S. 175-200.
Mario Bührmann: „‚Schiffbruch mit Zuschauer‘. Malinowski und die Argonauten des westlichen Pazifik“, in: Renate Schlesier/Ulrike Zellmann (Hg.): Ritual als provoziertes Risiko, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 71-93.
Renate Schlesier: „Riskante Ritualisierungen. Spiel-Experimente der Surrealisten“, in: Renate Schlesier/Ulrike Zellmann (Hg.): Ritual als provoziertes Risiko, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 201-219.
Renate Schlesier: „Salomon Reinach et l’anthropologie moderne de la Grèce ancienne“, in: Sophie Basch/Michel Espagne/Jean Leclant (Hg.): Les frères Reinach, Paris: De Boccard, 2008, S. 127-139.
Ulrike Zellmann: „Simulakren der Verführung. Irrwege der Initiation in der Hypnerotomachia Poliphili“, in: Renate Schlesier/Ulrike Zellmann (Hg.): Ritual als provoziertes Risiko, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 159-186.
Ulrike Zellmann: „‚C’est la prison Dedalus‘. Zum Dreiecksverhältnis von artifex, Baukunst und Liebe“, in: Martin Baisch/Beatrice Trînca (Hg.): Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexion von Kunst, Göttingen: V&R unipress 2009, S. 213-239.