Teilprojekt B04
Prekarisierung sexueller und geschlechtlicher Identitäten: Alltagspraxis und symbolische Formen
Projektleitung: Prof. Dr. Gert Mattenklott
Laufzeit: 01/1999-12/2010 (ab 10/2009 Fortführung unter der Leitung von Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte)
Die Leitfragen des Teilprojektes lauteten: Wie lässt sich die gegenwärtige Mobilisierung und Individualisierung sexueller und geschlechtlicher Identitäten und Lebensläufe mithilfe des Modells der Performativität bestimmen? Welche Selbsttechnologien und sozialen Strategien kommen in Gender-Diskursen, Identitätspolitiken und subkulturellen Ästhetiken zur Anwendung? Die im letzten Forschungsabschnitt neu hinzugekommene Frage nach den Auswirkungen ökonomischer und arbeitsorganisatorischer Veränderungen auf die Prekarisierung von Identitäten und dem Eingreifen künstlerischer und subkultureller Praxen in diese Ökonomie und Arbeitsorganisation erlaubte schließlich, den Zusammenhang von Alltagspraxen, kulturellen Praxen und sozialem Wandel in den Blick zu nehmen.
Der Begriff der Prekarisierung wurde eingeführt, um an eine Bezeichnungspraxis in der Geschlechter- und Gesellschaftstheorie sowie in der Praxis der politischen Bewegungen anzuschließen, welche die Ambivalenz von Enttraditionalisierung und Individualisierung einerseits und sozialer Unsicherheit und Instabilität andererseits adressiert. Dieser Begriff wurde durch das Teilprojekt kritisch bewertet, ausgearbeitet und geschärft. Dabei wurden die entstehenden instabilen, überdeterminierten und mithin prekären Subjektivitäten fokussiert. Die prekären Entgrenzungen traditioneller Definitionen von Geschlecht und Sexualität in den kulturellen Alltagsverhältnissen wurden mit ökonomischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen konfrontiert und die inzwischen stark angewachsene arbeitssoziologische und politologische Diskussion auf diesem Gebiet einbezogen. Dies erforderte einen erweiterten Begriff von Arbeit, der die sexuelle Dimension der Subjektivierung durch Arbeit berücksichtigt. Als ‚prekär‘ wurden folgerichtig nicht mehr nur entgarantierte Arbeitsverhältnisse aufgefasst, sondern im Anschluss an Judith Butler (2004) auch entgarantierte Subjektivierungsweisen. Butler verwendet den Begriff der precariousness, um zu zeigen, dass die Vorstellung einer Autonomie und Abgeschlossenheit des Subjektes aufgrund seiner Verwundbarkeit (vulnerability) durch andere undenkbar ist, in Butlers Worten: „We are undone by each other.“ Sexualität spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle, denn sie ist ein besonderer Modus, anderen ausgesetzt zu sein, von anderen abhängig zu sein. In ihren jüngsten Arbeiten unterscheidet Butler außerdem zwischen precariousness und precarity (2009: 25). Diese begriffliche Differenzierung wurde vom Teilprojekt aufgegriffen und zur Systematisierung des untersuchten Feldes fruchtbar gemacht. Sie erlaubt zum einen, zwischen einer anthropologischen und einer sozio-ökonomischen Perspektive zu differenzieren und zum anderen Gemeinsamkeiten beider Perspektiven sichtbar zu machen. Auf dieser begrifflich-konzeptuellen Basis wurde es einerseits möglich, mit dem Begriff der Prekarisierung den Zusammenhang zwischen Selbstverhältnissen und einer libidinösen Besetzung von Arbeit zu fassen. Andererseits konnte die bedeutende Rolle der Sexualität für die Macht der Anrufung im Kontext von Arbeit herausgearbeitet werden. Sexualität kann jedoch zugleich – dies konnte im Anschluss an de Lauretis (1993) mit Hilfe eines sozialen, nicht individuellen Begriffes der Fantasie gezeigt werden – Ausgangspunkt für eine Umarbeitung von Unterwerfung in Arbeitsverhältnissen sein. Eine solche Erweiterung des Prekarisierungsbegriffes erlaubte es, sowohl die Heterogenität der Triebkräfte von Prekarisierung als auch die aktive Teilnahme der Prekarisierten besser zu beschreiben. Ebenso ließ sich dadurch besser verstehen, auf welche Weise eine solche aktive Teilnahme verweigert oder umgearbeitet wird. Der von Renate Lorenz und Brigitta Kuster entwickelte Begriff der ‚sexuellen Arbeit‘ wurde in diesem Zusammenhang als unerlässliche heuristische Dimension der Analyse von Normalisierung, Subjektivierung und Arbeit etabliert. Seitdem verwenden ihn auch außerhalb des Sonderforschungsbereiches 447 „Kulturen des Performativen“ zahlreiche KollegInnen in ihren Arbeiten.
Die destruktive Dimension des Performativen wurde unter anderem durch die Teilnahme am Schwerpunkt „Destruktive Dynamiken“ untersucht. Der Beitrag des Teilprojektes bestand darin, die in der Queer Theory gegenwärtig am meisten diskutierten Ansätze einzubeziehen. Kritisch wurden sowohl die von Deleuze und Guattari inspirierte Strömung der Queer Theory als auch die anti-relationale Theorieströmung (Leo Bersani, Lee Edelman) gewürdigt. Letztere rückte wegen ihrer Be- schäftigung mit Zukünftigkeit und deren Zerstörung in den Fokus. Diese Diskussion wurde auch mit José Esteban Muñoz (New York) geführt, der dafür in den SFB eingeladen wurde. In diesem Kontext ermöglichte das Konzept der Temporality oder ‚Chronopolitik‘, das in den letzten Jahren in der Queer Theory wie auch in der postkolonialen Theorie weiterentwickelt wurde (Bhabha, Freeman), eine Kritik normativer Zeitvorstellungen im Feld der Ökonomie wie im Feld der Sexualität und der an sie geknüpften Biopolitiken. Das Konzept der Geschlechterperformativität als zitationeller differen- zieller Wiederholung wurde schließlich durch ein Konzept von Geschlechterperformativität als Ereignis, das mit Bestehendem bricht und Neues oder auch nur eine Lücke schafft, ergänzt.
Leitend für alle Untersuchungen war der Begriff der Intersektionalität, der sich in der Gender- und Gesellschaftsanalyse durchsetzt, um die Verschränktheit verschiedener Machtachsen thematisieren zu können. Dieser Begriff legt eine interdisziplinäre Analyse nahe, die sich zugleich auf Forschungsergebnisse etwa der Queer Theory, der Gendertheorie, der postkolonialen Theorie und der sogenannten (Dis-)Ability Studies stützt. Aufbauend auf die im Teilprojekt durchgeführten Untersuchungen wurde dem Begriff der Intersektionalität ein zweiter Begriff an die Seite gestellt: ‚Durch- querungen‘. Dieser erlaubt zu theoretisieren, dass Individuen zur gleichen Zeit unterschiedliche Subjektpositionen besetzen oder unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Anrufungen folgen. Diese Subjektivierungsweise ist dadurch charakterisiert, dass sie Freiheitsversprechen widersprüchlich mit Gewalt und Drohungen verbindet und eine besondere Fähigkeit verlangt, nämlich die einer gleichzeitigen Besetzung unterschiedlicher Plätze. Dabei wurde deutlich, dass sich in spätmodernen Subjektivierungsweisen nicht nur unterschiedliche Machtwirkungen oder Möglichkeiten durchkreuzen, sodass eine etwa als ‚lesbische Frau‘ oder als ‚schwarze Frau‘ besonderen Deprivilegierungen ausgesetzt ist, die additiv nicht zu erfassen sind (vgl. Crenshaw 1989), sondern es ist durchaus denkbar, dass eine/einer zugleich ‚als Mann‘ und ‚als Frau‘, zugleich ‚als heterosexuell‘ und ‚als homosexuell‘, zugleich ‚als schwarz‘ und ‚als weiß‘ angerufen ist oder agiert.
Projektrelevante Publikationen der letzten Förderphase:
Renate Lorenz: Queer Art – a freak theory, Bielefeld: transcript 2011.
Renate Lorenz: Salomania, hg. mit P. Boudry, Amsterdam: Galerie Ellen de Brujine 2009. Renate Lorenz: N.O. Body, hg. mit P. Boudry, Zürich: Les Complices 2008.
Renate Lorenz: Normal Work, hg. mit P. Boudry, Berlin: b_books 2008.
Volker Woltersdorff (Hg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu, hg. mit R. Schmidt, Konstanz: UVK 2008.
Volker Woltersdorff: The Paradoxes of Precarious Sexualities – Sexuality in Neoliberalism, in: Sondernummer „Queer Birmingham“ der Zeitschrift Cultural Studies, hg. von A. McRobbie (2011).
Volker Woltersdorff: „The Pleasures of Compliance“, in: M. do Mar Castro Varela u.a. (Hg.), Hege-mony and Heteronormativity. Revisiting „the Political“ in Queer Politics, Farnham: Ashgate 2011.
Volker Woltersdorff: „Sexual Politics in Neoliberalism. Managing Precarious Selves“, in: S. Ernst/ A. Bührmann (Hg.), Control or Care of the Self? The Sociology of the Subject in the 21st Century, Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2010, S. 210-222.