Teilprojekt B05
Die Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen. Pädagogische Gesten in Schule, Familie, Jugendkultur und Medien
Projektleitung: Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Wulf
Laufzeit: 01/1999-12/2010
Das Teilprojekt hat über die gesamte Förderdauer durch ethnographische Studien das bedeutsame Zusammenwirken körperlicher Dynamiken, räumlicher Gestaltung und zeitlicher Organisation für Prozesse der Erziehung, Bildung und Sozialisation in seinen Fokus gestellt. Durch die empirischen Untersuchungen zu den vier zentralen Sozialisationsfeldern „Schule“, „Familie“, „Jugendkultur“ und „Mediennutzung“ konnte die hohe Relevanz eines Konzepts des Performativen für diese Prozesse herausgearbeitet werden. Nachdem in den „kleinen“ Ritualen des Alltags, in außeralltäglichen Ritualen und in lokalen Arrangements von Lernkulturen die Hervorbringung des Sozialen und die jeweiligen Strukturierungsleistungen für eine kollektive Praxis in Erziehung, Bildung und Sozialisation untersucht worden waren, zeichneten sich besonders Gesten in ihrer performativen Wirksamkeit als ein fachliches Forschungsdesiderat ab. Um einen entsprechenden Beitrag für eine erziehungswissenschaftliche Sicht auf Gesten zu leisten, wurden diese als körperliche Praktiken konzipiert, die an der Konstitution und Darstellung sozialen Sinns maßgeblich beteiligt sind. Es wurde rekonstruiert, wie Gesten Übergänge zwischen verschiedenen Kommunikations- und Interaktionssequenzen schaffen, wie sie Prozesse der Wissensvermittlung und Koordination ausgestalten und wie Gesten auf die Ausbildung sozialen Verhaltens einwirken.
Als Darstellungsweisen von Intentionen und Emotionen wirken sie an der Vergesellschaftung des Einzelnen und an der Hervorbringung und Ausgestaltung von kollektiver Praxis und Institutionalisierungen mit. In sozialen Situationen sind sie Mittel der Sinngebung und Gestaltung, die Verständigungsprozesse unterstützen und regulieren. Gesten begleiten die verbale Rede und haben zugleich auch ein „Eigenleben“ außerhalb der Sprache. Verschiedentlich transportieren sie Botschaften, die das Gesprochene ergänzen, indem sie einzelne Aspekte verstärken, relativieren oder durch
Widerspruch auch in Frage stellen. Häufig sind die so ausgedrückten und dargestellten Gehalte dichter mit den Emotionen der Sprechenden verbunden als ihre verbalen Aussagen. Gesten gelten daher oft als „zuverlässigerer“ Ausdruck des inneren Lebens eines Menschen als die stärker vom Bewusstsein gesteuerten Worte. In Gesten bringt sich der menschliche Körper mit seiner Materialität und Sinnlichkeit zur Darstellung; in ihnen verdichten sich individuelle wie kollektive Bedeutungen. Sie sind Ausdruck innerer Prozesse, die sich in objektivierter Form darstellen und deren Objektivierung auf das Individuum, das die Geste vollzieht, zurückwirkt und ihm dadurch ein Bewusstsein seiner inneren Prozesse ermöglicht. Im gleichen Prozess wirkt die Geste nach außen auf ihre Adressaten, so dass sie eine intersubjektive Verbindung schafft. Über die Forderung, institutionsspezifische Gesten zu vollziehen, setzen Institutionen auch ihren Machtanspruch durch. Im Vollzug dieser Gesten werden die institutionellen Werte und Vorstellungen in die Körper der Angehörigen bzw. der Adressaten der Institutionen eingeschrieben und durch wiederholte „Aufführungen“ in ihrer Gültigkeit bestätigt. Gesten können dazu dienen, soziale und kulturelle Differenzen herzustellen, auszudrücken und zu erhalten.
Eine allgemeine Bedeutungszunahme von Gesten als Untersuchungsgegenstand ist bereits seit längerem innerhalb der Sprachwissenschaft mit ihren verschiedenen Unterdisziplinen zu beobachten. Nachdem eine verstärkte Berücksichtigung des Körpers in Prozessen der Erziehung, Bildung und Sozialisation durch die Untersuchungen zu Ritualen, Performativität und Mimesis in der Erziehungswissenschaft viel Beachtung gefunden haben, wird auch eine Thematisierung der Geste innerhalb der Erziehungswissenschaft zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen.
Projektrelevante Publikationen der letzten Förderphase:
Bernd Hüppauf, Christoph Wulf (Hg.): Dynamics and Performativity of Imagination. The Image between the Visible and the Invisible. New York: Routledge 2009.
Ruprecht Mattig: Rock und Pop als Ritual. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft. Bielefeld: transcript 2009.
Christoph Wulf, Birgit Althans, Kathrin Audehm, Gerald Blaschke, Nino Ferrin, Ingrid Kellermann, Ruprecht Mattig, Sebastian Schinkel: Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation. Ethnographische Feldstudien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.
Christoph Wulf, Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis. München: Wilhelm Fink 2010.
Christoph Wulf (Hg.): Kontaktzonen: Zur Dynamik und Performativität kultureller Begegnungen. Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 19, Heft 2 (2010).
Christoph Wulf, Gunter Gebauer (Hg.): Emotion – Bewegung – Körper. Paragrana – Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 19, Heft 1 (2010).
Christoph Wulf, Birgit Althans, Kathrin Audehm u.a.: Ritual and Identity: The Staging and Performing of Rituals in the Lives of Young People. London: The Tufnell Press 2010.
Christoph Wulf, Mark Poster (Hg.): Medien – Körper – Imagination. Paragrana – Internationale Zeit-schrift für historische Anthropologie, Bd. 17, Heft 1 (2008).