Ein Schemel für die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft – und was aus ihm wurde
Von Eberhard Lämmert
»Wäre die Universität der Weihnachtsmann, es stünde auf der Liste ein winziger Lehrstuhl (ein Schemel, aber kein Klappstuhl) für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft.« Mit diesem frommen Wink und mit einer Anspielung auf die »Geschichte vom verlorenen Sohn« beantwortete Peter Szondi seit dem Sommer 1963 die ersten, noch verschlüsselten Anfragen germanistischer Kollegen, ihn aus Göttingen nach Berlin zurückzuholen, wo er sich 1961 habilitiert hatte. An eine Diätendozentur war zu denken oder an ein Extraordinariat. Als aber der hartnäckige Wunsch, im Verein mit Peter Szondi die FU zu einem Zentrum neuartiger Literaturforschung zu machen, sich in der Fakultät schließlich durchgesetzt hatte, da erfüllte sich Szondis Adresse an den Weihnachtsmann auf eine Weise, die seine Erwartungen noch beträchtlich übertraf: Genau acht Tage vor dem Fest, nämlich am 16. Dezember 1965, beschloss das Kuratorium der Freien Universität »die Errichtung eines selbständigen ›Seminars für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft›«. Zugleich benannte das Kuratorium den Lehrstuhl für »Vergleichende Literaturwissenschaft«, den Szondi schon zum Sommersemester bezogen hatte, um in »Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft«.
Diese heute kaum noch merkliche Verschiebung in der Benennung des Lehrstuhls und des neuen Instituts war damals ein Signal und zugleich ein Sieg über Zweifler, die zuerst noch in der Mehrzahl schienen. Zwar entsprach die Einrichtung des neuen Faches dem erklärten Ziel einiger Fakultätsmitglieder, für Literaturforschung und Hermeneutik einen Ort im Schnittpunkt mehrerer Philologien zu errichten, aber die Mehrheit der Fakultät hatte bei ihrer Einwilligung zur Besetzung eines solchen Lehrstuhls wie selbstverständlich an einen Klassischen Philologen oder einen universalen Mediävisten gedacht, und der Schatten von Ernst Robert Curtius schwebte beim Beschluss der Fakultät einen Augenblick lang über den Häuptern der Runde.
Einen Lehrstuhl für vergleichende Literaturwissenschaft hatte es vor 1945 in Deutschland einzig in Tübingen und danach nur in den frankreichnahen Universitäten Saarbrücken, Mainz und außerdem in Bonn gegeben, wo der Latinist Horst Rüdiger die Tradition von August Wilhelm Schlegel und von Ernst Robert Curtius fortzusetzen suchte. Darum war es aufsehenerregend genug, dass die Kommission, als sie bald darauf den 35jährigen Peter Szondi unico loco vorschlug, in ihrer Begründung erklärte, er verspreche, eine Forschungsrichtung auszuformen, »die sich wesentlich von analogen komparatistischen Methoden und Intentionen unterscheidet«. Der neue Lehrstuhl solle die »Tradition der deutschen philosophischen Ästhetik und Literaturtheorie« produktiv weiterentwickeln in »Auseinandersetzungen mit den modernen Strömungen des New Criticism« und den »Methoden der ausländischen Komparatistik«.
Das war absichtlich sanft formuliert, und man hört noch die Hilfestellung heraus, mit der die Trostwörter »Tradition« auf der einen und »Auseinandersetzung« auf der anderen Seite für die Zweifelnden das »Eigene« gegenüber dem »Fremden« eigens zu beschirmen versuchten. Deshalb spricht das Gutachten auch weiterhin sorgfältig nur von der vergleichenden, aber keineswegs von der allgemeinen Literaturwissenschaft. Zwar war es bereits 1962 mit Bleibeverhandlungen gelungen, meinem Lehrstuhl den Namen »Deutsche Philologie und Allgemeine Literaturwissenschaft« zu geben, und Szondi hatte ihn bereits im Winter 1964/65 ein Semester lang vertreten. Aber es gab Gründe genug, eine »Allgemeine Literaturwissenschaft« damals noch mit äußerstem Misstrauen zu betrachten. Denn Begriff und Sache rührten an ein Axiom deutscher Wissenschaftstradition, das damals eigentümlich genug von konservativen wie von marxistischen Eiferern gleichermaßen streng gehütet wurde: daß nämlich philologische Forschung partout historisch anzulegen sei, wenn sie ihren Namen verdienen wolle.
Um das heute zu verstehen, muss man wissen, dass bereits das Wort »Literaturwissenschaft« gegenüber »Literaturgeschichte« als Reizwort aufgefasst wurde, weil damit eine historisch gedachte Disziplin sich den Anschein gab, als habe ihr Gegenstand Anspruch auf eine eigene Theorie und definiere sich nicht allein von seinem historischen Ursprung her, sondern etwa auch als eine besondere Komponente jeder Schriftkultur. Stanzels Perspektivenlehre, Szondis Theorie des modernen Dramas, meine Bauformen des Erzählens und der geniale Wurf Käte Hamburgers, die Logik der Dichtung, waren zu ihrer Zeit auch Pfeilspitzen gegen die Inbrunst einer traditionellen Literaturauslegung mit dem vorrangigen Ziel, das innerste Wesen eines Volkes aus seiner Sprache und aus der Geschichte seiner Literatur herauszulesen.
So fragte denn ein gelehrter Kollege in der Fakultät schon angesichts des Antrags, ein Seminar für »Vergleichende Literaturwissenschaft« einzurichten, »ob das neue Fach« überhaupt noch »zu den historisch-philologischen Fächern gerechnet werden solle«, und auf den Zusatzantrag eines Historikers wurde diese Anfrage am 2. Juni 1965 erst einmal »der Promotionskommission zur Entscheidung überwiesen«. Deswegen soll bei dieser Gelegenheit eigens auch der Philologen gedacht werden, die unseren Plan in der Fakultät von Anfang an unterstützten: des in Nowgorod geborenen Slawisten Jurij Striedter, dem später, gleich hilfreich, Klaus Dieter Seemann folgte, des zu früh verstorbenen Anglisten Richard Gerber und der Romanisten Walter Pabst und Erich Loos, dem Peter Szondi als dem damaligen Dekan der Philosophischen Fakultät viel Hilfe verdankte und mit dem er später, im Zuge der Studentenrevolte, als dem Vorsitzenden des von ihm gewählten Fachbereichs in umso schmerzlicheren Konflikt geriet.
Dem entschlossenen Neuerungswillen dieses philologischen Kerns der Fakultät um die Mitte der sechziger Jahre ist es dann auch zu danken, dass die Begründung, mit der das Kuratorium der Universität ein Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zum Weihnachtsgeschenk machte, an entschiedenem Zukunftsblick nichts mehr zu wünschen übrig ließ. »Vergleichende Literaturwissenschaft«, so heißt es dort, werde »nur noch einem Teilgebiet der Disziplin gerecht«. Zur historischen Untersuchung von Zusammenhängen zwischen den Nationalliteraturen, »die einst die einzige Aufgabe des Faches bildete«, sei eine systematische, auf eine Theorie der Literatur im ganzen zielende Bemühung hinzugekommen. »Theorie der Literatur, Gattungspoetik, Geschichte der Literaturbetrachtung, Literatursoziologie« seien nicht nur in der amerikanischen, sondern auch in der lange rein historisch orientierten französischen Schule der Komparatistik neben dem Vergleich der Nationalliteraturen gleichwertige Teilgebiete der Disziplin geworden. »Sie verlangen eine Ergänzung in der Bezeichnung des Faches, da der Ausdruck ›vergleichende Literaturwissenschaft‹ der hinter die Aufteilung in Nationalliteraturen zurückgehenden Intention nicht entspricht.«
Wie sah diese Ergänzung aus, und was brachte das Seminar damit der Freien Universität damals an besonderem Profil ein? Viel davon lässt sich ablesen aus dem Protokoll eines gemeinsamen Doktorandenkolloquiums, das für den 25. November 1966 die ausgiebige Diskussion mit einem schon früh begehrten Gast verzeichnet. Damals sprach Geoffrey Hartman zu uns über »Strukturalismus und Literaturwissenschaft«. Auch in dieser Runde standen die Verteidiger der historischen Perspektive auf die Literatur in verschiedenen Lagern. Der Kunstgriff aber, mit dem Peter Szondi den Strukturalismus als ein geeignetes Instrument zur übergreifenden Mythenforschung mit der These verband, die metahistorische Gemeinsamkeit von Strukturen begünstige es gerade, historische Unterschiede schärfer und vor allem kritischer zu fassen, brachte die neue Qualität einer derartig kritischen Literaturforschung rasch ans Licht. Tatsächlich war der neue Lektürehorizont, den Szondi seinen Seminarmitgliedern mit den ästhetischen Theoremen Walter Benjamins und der Frankfurter Schule erschloß, besonders geeignet, den strukturellen Vergleich zu substantiellen Unterscheidungen zu nutzen. Hartman hatte am Alten Testament und an der Odyssee die homologe Ausgangssituation verglichen: ein sakrales Gut wird durch eine Handlung verletzt, und diese Verletzung zieht die ungeheuerlichsten Konsequenzen nach sich. Einerseits deckt ein solcher Vergleich anthropologische Konstanten in gesellschaftlichen Konflikten auf, anderseits kann jedoch eine ästhetische Theorie, die die Autonomie eines Textes gegen jede Nivellierung verteidigt, die Möglichkeit sichern, substantielle und damit auch historische Besonderheiten gebührend zu markieren.
Die Verschränkung von erkenntniskritischer Weitsicht und akribischer Textphilologie, die in solchen Diskussionen hervortrat, machte das Institut innerhalb seiner Umgebung rasch zu einer Denkschule von eigenem Profil und von starker Anziehungskraft auf die besten Köpfe unter den Studenten der umliegenden philologischen und philosophischen Fächer. Diese Anziehungskraft und die darauf rasch sich gründenden bemerkenswerten Studienerfolge hatte das Seminar allerdings auch einem weiteren Beschluss des Kuratoriums zu verdanken, der den bloßen Lehr-Schemel für eine Person erst zu einer kompletten Einrichtung für Literaturstudien vervollständigte. Der Beschluss lautete, dem Seminar für »das Studium sowie die Forschung auf dem Gebiete der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft eine gute Präsenzbibliothek« einzurichten. Auch hier ist die Begründung bemerkenswert: Bislang fänden sich die für diese Studien in Frage kommenden Bücher verstreut in den Bibliotheken der Philosophischen Fakultät, und »die speziellere Fachliteratur« sei »in Berlin systematisch noch gar nicht gesammelt worden«. Tatsächlich war es alsbald die in ihrem Zuschnitt einzigartige und dabei mit besonderer Kennerschaft zusammengestellte Bibliothek, die zusammen mit der räumlichen auch die geistige Anziehungskraft des Seminars ausmachte. Ich erinnere mich der Streifzüge durch Antiquariatskataloge und Antiquariate, die Szondi mit seinen Schülern und die wir gemeinsam unternahmen, um dieser Bibliothek ein literatur- und kunsttheoretisch eigenständiges Profil zu geben, und ich habe noch im Ohr, wie jeder Titel danach gewogen und mancher zu leicht befunden wurde.
Gegen das weitgestreute Allerlei auch guter, großer Bibliotheken der FU entstand hier ein literarischer Kosmos, der für Studenten schon nach dem zweiten Semester übersehbar war und in dem sie sich deshalb alsbald als Miteigentümer und Mitverwalter des hier verfügbaren Wissens fühlen konnten. Von daher ist übrigens auch zu verstehen, dass die Forschungsfelder und die Lehrveranstaltungen der künftigen Semester in diesem Hause bald regelmäßig von den Studenten mitberaten und mit Präferenzen versehen werden konnten. Ich erinnere mich nur eines einzigen Wunsches nach einer Lehrveranstaltung, den Szondi seinen Studenten abschlug, nämlich ein Seminar über »Mystik und Poesie« abzuhalten. Mystik, das war wohl seine Sache nicht. Im übrigen aber wusste Szondi seine eigenen Vorhaben nicht zuletzt auch mit dem Blick auf die vorhandenen oder ausdrücklich einzustellenden Bibliotheksbestände plausibel zu machen. Noch heute sind die Rara zum 18. Jahrhundert Schmuckstücke der Bibliothek, und sie zeigen zugleich die Konzentration der Seminare und Vorlesungen auf das bürgerliche Trauerspiel zu einer Zeit an, als im Aufruhr der Studentenbewegung der Sinn für konzentrierte Studien schon weithin abhanden gekommen war. Es war die Zeit, in der das Seminar für einige Zeit in den Stürmen der Studentenbewegung der FU zum Auge im Taifun wurde.
Das alles beschreibt einen Zustand, der selbst in rauhen Zeiten und auch heute noch einem idealen Literaturstudium wenigstens nahe kommt. Denn für die Studenten der Literatur gilt wie so ausdrücklich für kein anderes Fach, dass eine Bibliothek für sie eben nicht nur die Forschungsliteratur zu ihrem Gebiet, sondern – wie für den Archäologen die Ausgrabungsobjekte oder für den Chemiker die mineralischen und die organischen Substanzen – die Objekte der Erforschung selbst in Manuskript- und Buchform bereit hält. Deshalb ist für Studenten der Literaturwissenschaft das Studium auch nicht mit Bestellzetteln über den Tisch zu betreiben. Ein Leben mit und zwischen Büchern ist entscheidend für ihren Studien- und womöglich für ihren Lebenserfolg.
Das Kuratorium war also gut beraten, das Seminar sogleich bei seiner Gründung mit einer eigenen Bibliothek zu versehen, und der Kurator tat ein übriges, ihm ein kleineres Haus in der Halbdistanz zu den großen Seminaren der Fakultät zuzuweisen, den Kiebitzweg 23, eine Adresse, die in Paris und in Zürich, aber auch in Frankfurt am Main und an der Ostküste der USA bald für ein Markenzeichen stand. Wie vorausschauend das war, hat die Geschichte des Seminars und hat der Ausbau seiner internationalen Beziehungen bewiesen, die es bis heute zu einem locus conspicuus unter vergleichbaren Instituten in Deutschland machen. Längst wurde es für Humboldt-, Fulbright- und DAAD-Stipendiaten und dank der Samuel Fischer-Professur auch für Autoren aus aller Welt zu einem begehrten Treff auf dem europäischen Kontinent.
Hier soll in erster Linie vom Glück der ersten Stunde die Rede sein, von der Berufung Peter Szondis. Die fernere Geschichte des Seminars ging nicht ab ohne Kämpfe um seinen Fortbestand, die nach Szondis Tod noch jahrelang bewunderswert ausgetragen wurden von seinen Assistenten, und sie ging nicht ab ohne Rückschläge und ohne zähen Wiederaufbau, um aus dieser für die FU glücklichen Gründung ein Kontinuum werden zu lassen und ein Institut, das mit seinen Pfunden wuchert.
Zu einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat, fand Peter Szondi hier die erhoffte Wirkungsstätte, die er formte. Vor allem fand er hier auch einen bedeutenden Kreis von Schülern, der weit über seinen Tod hinaus – mit der Aufbereitung seiner Vorlesungen für eine breitere Öffentlichkeit und mit eigenen Arbeiten – zu der Ausstrahlung, die von seiner Person und von seinen Arbeiten ausging, das seine beigetragen hat. Von dieser Ausstrahlung ist die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU noch heute unverwechselbar geprägt. Aus dem Schemel freilich, den Szondi sich als Fünfunddreißigjähriger für sie erbat, und aus dem Ein-Mann-Seminar, dem er Gestalt gab, ist heute, in dem Jahr, in dem er fünfundsiebzig geworden wäre, ein Institut mit einem breit gefächerten Kollegium geworden, das, wie ich denke, seinem Namen und auch der Universität, die es seinerzeit begründete, weiterhin gut ansteht.
Eberhard Lämmert: Ein Schemel für die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft – und was aus ihm wurde (Rede zur 30-Jahr-Feier des Instituts am 18. Januar 1996) – DLA Marbach, NL Lämmert
Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Lämmert war von 1977 bis 1992 Direktor des Instituts für AVL. Seine Ansprache zum dreißigjährigen Bestehen des Instituts am 18. Januar 1996 erscheint hier in einer gekürzten und neu bearbeiteten Fassung.