Im Rahmen des 2. AVL-Colloquiums spricht Prof. Dr. Michael Auer (Peter Szondi-Institut Freie Universität Berlin). Alle Studierende, Mitarbeitende und Gäste sind herzlich eingeladen.
Die Mauerschau ist eine zentrale theatrale Strategie, die auf die griechische Antike und namentlich auf Aischylos zurückgeht. Sie stellt eine Art Urszene des Theaters dar: Eine Figur steht auf erhöhter Position und spricht zu einem Publikum. Doch wird die Mauerschau alsbald (schon bei den Griechen und dann systematisch in der französischen Klassik) durch die konkurrierende Strategie des Botenberichts verdrängt. Diese Verdrängung hängt mit der Dramatisierung des Theaters seit Aristoteles zusammen (und wird noch einmal durch die bürgerliche Doktrin der vierten Wand verstärkt). Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Prominenz der Mauerschau bei Shakespeare und ihr Wiederaufleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dieses neuerliche Interesse steht im Zeichen der bürgerlichen und sozialen Revolutionen, die ein Kollektiv an die Macht bringen und damit auch die dramatis personae sprengen. Anders als selbst noch der Bote bieten die passiv bleibenden Mauerschauer*innen kein Potential einer (dramatischen) Heroisierung. So übernehmen bevorzugt Sklaven, Frauen oder Subalterne diese Funktion. Mit dem Siegeszug des Fernsehens erhält die Mauerschau eine neuerliche Sprengkraft. Die Theatertexte Sara Kane und Elfriede Jelinek zeigen, dass das Fernsehen die vierte Wand nicht etwa einreißt, sondern im Gegenteil versiegelt. Ihr Gebrauch der Mauerschau lässt das seit der Dramatisierung des Theaters in Off Verdrängte wiederkehren.
Zeit & Ort
19.06.2024 | 18:00 c.t.
Freie Universtität Berlin
Raum: KL 32/202
Habelschwerdter Allee 45
14195 Berlin