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Der literarische Nietzsche

Nietzsche

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Friedrich Nietzsches Schriften eignen sich besonders, um ästhetisches und kunstphiloso­phisches Denken als Grenzphänomene von Literatur und Philosophie zu studieren. So ist ihre Wirkung auf die europäische Kunst- und Literaturgeschichte mindestens ebenso groß gewesen, wie auf die Philosophiegeschichte. Das macht Nietzsche zu einem der wichtigsten „Dichter-Philo­sophen“. Die Philosophie Nietzsches ist nach dem Deutschen Idealismus die erste Philo­sophie, die ihre eigene Darstellungsform zu reflektieren beginnt und am Ende selbst die Gestalt eines Kunstwerks annimmt. Die Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts, die Existenzphilosophie Martin Heideggers, Karl Jaspers und Jean-Paul Sartres haben Nietzsches Credo, dass „nur als ästhetisches Phänomen (...) das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ sind, aufgegriffen. Insbesondere aber in der literarischen Dekadenz sowie in der hermetischen Dichtung von Stefan George, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka und Paul Celan, aber auch in der gegennaturalistischen Kunst Hermann Hesses, Thomas oder Heinrich Manns und den Romanen Robert Musils und Gottfried Benns ist dieser Topos allgegenwärtig. Ihnen allen gemeinsam ist, dass literarästhetische Erfahrungen das Lebenswissen der Literatur in ein zugleich kontrastives und komplementäres Verhältnis zu den anderen Wissenschaften setzen.

Die Konferenz will den „literarischen Nietzsche“ und die damit verbundene ästhetische Wende in der Philosophie, die den explizit philosophischen Diskurs durch eine literarische Darstellung ablöst, zum Thema machen. Dadurch soll auch deutlich werden, dass Nietzsches Popularität in China weniger auf seine Zeit- und Kulturkritik, ihren radikalen Traditionsbruch und ausgeprägten Antirationalismus zurückzuführen ist, sondern der tiefere Grund für diese Begeisterung darin liegt, dass durch Nietzsches Literari­sierung der Philosophie ein Argumentationspotential freigesetzt wird, das der konfuzianische Literatur- und Kunstdiskurs schon seit jeher in Anspruch genommen hat. Diese Bedeutung der Ästhetik als literarische Form von Philosophie wird durch die Tatsache hervorgehoben, dass Liu Gangji 劉綱紀 und Li Zehou 李澤厚 in ihrem Standardwerk Geschichte der chinesischen Ästhetik (Zhongguo meixue shi 中國美 學史) schreiben, für Chinesen sei ein „ästhetisches Bewusst­sein das höchste erreichbare Bewusstsein im menschlichen Leben“ (Li, Zehou 李澤厚 und Liu, Gangji 劉綱紀: Zhongguo meixue shi 中國美學史, Bd. I, Peking: Zhongguo shehui kexue 中國社會科學 1984, S. 33.). Einer solchen Auffassung zufolge besteht das Wesen der Philosophie nicht allein darin, Begriffe zu ordnen und logische Zusammenhänge zwischen ihnen zu finden, sondern vielmehr darin, eine unmittelbare innere Erfahrung auszudrücken. In dieser Hinsicht ist Philosophie mit Kunst gleichzusetzten bzw. eine Kunst zu leben. 

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